Statistisches Bundesamt Immer mehr Menschen in NRW von Armut bedroht

Düsseldorf · Armut ist ungebildet, Armut ist alt und Armut ist weiblich – das zeigen die neuen Zahlen zum Armutsrisiko, die das Statistische Bundesamt herausgegeben hat. NRW schneidet dabei bundesweit am schlechtesten ab.

In diesen Städten sind Menschen von Armut bedroht
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Foto: dpa, jka wst

Armut ist ungebildet, Armut ist alt und Armut ist weiblich — das zeigen die neuen Zahlen zum Armutsrisiko, die das Statistische Bundesamt herausgegeben hat. NRW schneidet dabei bundesweit am schlechtesten ab.

Alleinerziehende, Rentner und Menschen mit niedriger Bildung — sie laufen in Nordrhein-Westfalen besonders Gefahr, arm zu sein. Überhaupt sind in Nordrhein-Westfalen immer mehr Menschen von Armut bedroht, das zeigen Zahlen des statistischen Bundesamts.

Die Statistikbehörde erhebt jedes Jahr, wie hoch das Armutsrisiko in Deutschland ist. Dabei ist die Armutsgefährdungsquote, wie es im Behördensprech heißt, ein Kennzeichen dafür, wie sich die Einkommen und Löhne in Deutschland entwickeln, erläutert Christoph Schröder, Armutsforscher beim Institut für deutsche Wirtschaft in Köln (IW). Die Statistiker haben alle Einkommen in Deutschland miteinander verglichen.

Die Armutsgefährdungsquote orientiert sich dabei am Median, das heißt nicht am Durchschnitt, sondern an dem Einkommenswert, der von der einen Hälfte der Bevölkerung unterschritten und von der anderen überschritten wird. Gemessen am bundesweiten Schwellenwert, sind in Nordrhein-Westfalen 3,1 Prozent mehr Menschen von Armut bedroht als 2005. 17,5 Prozent der Menschen in NRW haben weniger als 60 Prozent des bundesdeutschen Einkommensmittels zur Verfügung, also mehr als jeder Sechste. "Der starke Anstieg im Vergleich zum Bund erklärt sich vor allem dadurch, dass in NRW die Einkommen nicht so stark steigen wie auf Bundesebene. Ob dies direkt mit steigender Armut verbunden ist, ist offen, da auch in NRW die Kaufkraft deutlich gestiegen ist", sagt IW-Forscher Schröder.

In Nordrhein-Westfalen gilt ein-Personen-Haushalt mit einem Einkommen von 918 Euro netto im Monat als armutsgefährdet. Für einen Vier-Personen-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren (die statistisch anders bewertet werden) liegt der Wert bei 1929 Euro. Wer darunterliegt, gilt als arm. In NRW betrifft dies nach Aussagen von Sozialminister Rainer Schmeltzer (SPD) rund 2,8 Millionen Personen. Bei Vorlage des neuen NRW-Sozialberichts hatte er erklärt: "Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich weiter vergrößert." Die Gesellschaft drifte weiter auseinander. Trotz der guten Entwicklung bei Konjunktur und Arbeitsmarkt drohten sich Armut und Ausgrenzung zu verfestigen. Alleinerziehende, Migranten und Geringqualifizierte sowie Kinder und Jugendliche seien davon betroffen.

Fragt man nach den Gründen dafür, dass in NRW die unteren Einkommen nicht so stark steigen, muss man vor allem aufs Ruhrgebiet blicken. In den Ruhrgebietsstädten wie Dortmund, Duisburg und Essen ist fast jeder fünfte beziehungsweise fast jeder vierte armutsgefährdet, das zeigen die Zahlen des Statistischen Landesamts. Für den Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge von der Universität Köln ist das ein Zeichen dafür, dass der Strukturwandel im Ruhrgebiet nicht richtig funktioniert hat. "Es ist offenbar nicht gelungen, den Menschen Arbeitsplätze zu vermitteln, mit denen sie ihre Familie ernähren können", sagt Butterwegge. Armut zeige sich als erstes auf kommunaler Ebene. Deswegen findet Butterwegge es richtig, Kommunen finanziell besser zu stellen. In NRW sind die Kommunen hochverschuldet, das hindere sie daran, im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge auch sozial Benachteiligten die Teilhabe an sozialen, kulturellen und politischen Angeboten zu ermöglichen.

Dass in Deutschland die Armutsgefährdungsquote steigt, obwohl sich die Wirtschaft gut entwickelt, ist für Butterwegge nur ein "scheinbares Paradox". Denn Wachstum habe immer Gewinner und Verlierer, niedrige Löhne bedeuteten häufig höhere Gewinne. "Die Wirtschaft kann boomen, ohne dass es allen gut geht", sagte Butterwegge auf Anfrage unserer Redaktion.

Geringverdiener, Alleinerziehende und Arbeitslose sind besonders betroffen

In Deutschland gebe es vermehrt Menschen, denen es gar nicht gut gehe. Geringverdiener, Alleinerziehende und Arbeitslose zählen seit Jahren zu den Gruppen in der Gesellschaft, die besonders Gefahr laufen, sozial abgehängt zu werden. Hinzu kommen die Rentner. "Unter den Rentnern steigt das Armutsrisiko am stärksten", sagt der Politikwissenschaftler.

In NRW sind Ein-Personen-Haushalte (24,8 Prozent), Alleinerziehende (42), Arbeitslose (58,1), Menschen mit geringer Bildung (32,1) und Migranten (37,8 Prozent) die jenigen sozialen Gruppen, die gemessen am Landesmittelwert am stärksten von Armut bedroht sind. Auch Frauen zwischen 18- und 25 Jahren gehören mit 26,9 Prozent zu dieser Gruppe.

Es gebe Trends, die diese Entwicklung begünstigen, sagt Armutsforscher Christoph Schröder vom IW. Es gebe immer mehr Ein-Personen-Haushalte. Mehr-Personen-Haushalte mit Doppelverdienern können dagegen gemeinsam wirtschaften und sparen dadurch. Außerdem gebe es den Trend zur "Homogamie" — das heißt, dass sich mehr Partner zusammen tun als früher, die ein ähnlich hohes Einkommen haben, erklärt Schröder. Das bedeutet, dass sich immer mehr Paare finden, die aus derselben Einkommensschicht kommen. Der Arzt und die Krankenschwester — das komme in der heutigen Zeit immer seltener vor. Gerade gut qualifizierte Frauen suchten sich meistens Lebenspartner mit ähnlichem Einkommensniveau.

Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge sieht vor allem ein Problem in der Verstetigung von Armut. Dabei sei Kinderarmut besonders besorgniserregend. Kürzlich hatte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie herausgegeben, dernach jedes fünfte Kind in NRW von Hartz IV lebt. "Arme Kinder werden zu armen Erwachsenen, die wiederum arme Kinder bekommen. Das ist ein Teufelskreis." Beide Armutsforscher sind sich einig: Bildungsperspektiven sind ein Schlüssel zur Armutsbekämpfung.

Butterwegge spricht diesbezüglich von den vier "G's": Den gesetzlichen Mindestlohn so erhöhen, dass man davon eine Familie ernähren kann. 8,84 Euro seien zu wenig. Die Ganztagsbetreuung in Schule und Kindergarten und zwar beitragsfrei. Die Gemeinschaftsschule nach dem skandinavischen Vorbild und eine Grundsicherung, die anders als Hartz IV bedarfsgerecht, repressionsfrei und armutsgesichert sei.

(heif)
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