Früherer Juso-NRW-Chef Veith Lemmen "Union und SPD haben keine gemeinsame Grundlage mehr"

Düsseldorf · Die Jusos haben ihren Kampf gegen eine erneute große Koalition noch nicht aufgegeben. Veith Lemmen, Ex-NRW-Chef des Jugendverbands und Mitglied im SPD-Vorstand in NRW, erklärt, woher dieser Widerstand kommt.

 Veith Lemmen war von 2010 bis 2014 Chef der Jusos in NRW.

Veith Lemmen war von 2010 bis 2014 Chef der Jusos in NRW.

Foto: PAUL NITSCHMANN

Eine aktuelle Umfrage sieht die SPD bei 17 Prozent. Ist das ein Wert, der den Gegnern einer großen Koalition in der SPD Auftrieb gibt?

Veith Lemmen Das zeigt, dass viele Menschen das Bedürfnis haben, die großen politischen Fragen nicht in die Zukunft zu vertagen, sondern jetzt anzugehen.

Sie gehören zu den Gegnern einer großen Koalition. Warum?

Lemmen Seit zwölf Jahren erlebe ich eine Politik in der Bundesrepublik, die vor allem durch die beiden großen Parteien geprägt ist — und eben keinen umfassenden Politikwechsel, der die brennenden Fragen der heutigen Zeit zufriedenstellend beantwortet.

Geben Sie mir ein Beispiel für diese brennenden Fragen.

Lemmen Der soziale Frieden in der Bundesrepublik ist ein Stück weit gefährdet, weil viele Leute das Gefühl haben: Es geht hier nicht mehr gerecht zu — und damit haben sie recht. Die Menschen haben Verlustängste, können häufig von ihrer eigenen Arbeit nicht mehr leben, geraten in Altersarmut. Darauf müssen Parteien massiv reagieren. Die Arbeitswelt steht durch die Digitalisierung vor einem Umbruch. Siemens-Ingenieure werden entlassen, also nicht nur ungelernte Arbeitskräfte, sondern auch Spezialisten. Kleine und mittlere Unternehmer rackern sich ab, um etwas zu erreichen und zahlen ehrlich ihre Steuern — und dann gibt es große global agierende Konzerne, die es immer wieder schaffen, ihre Gewinne außer Landes zu bringen, Facebook, Amazon, Google agieren grenzenlos. Das Sondierungspapier gibt darauf keine weitreichenden Antworten.

Hat sich die SPD in den Sondierungsverhandlungen an zu wenigen Stellen durchgesetzt oder hat sie nicht mal zufriedenstellende Ideen eingebracht?

Lemmen Ich sehe ein anderes Problem: Die SPD-Leute haben zwar versucht, gut zu verhandeln, aber die gemeinsamen Möglichkeiten von Union und SPD sind in den vergangenen Jahren weitgehend aufgebraucht worden. Es gibt keine gemeinsame Grundlage mehr.

Werden Sie also beim Mitgliederentscheid gegen die große Koalition stimmen?

Lemmen Nach den Sondierungsgesprächen habe ich nicht das Gefühl, dass eine große Koalition die großen Fragen lösen kann. Ich sehe da keinen Neuanfang. Wenn es weiter in diese Richtung geht, kann ich der Koalition nicht zustimmen.

Ihr Nachfolger als Vorsitzender der NRW-Jusos, Frederick Cordes, möchte, dass Leute nun in die SPD eintreten, um gegen die Koalition zu stimmen. Unterstützen Sie diese Idee?

Lemmen Selbstverständlich wollen wir, dass Leute der SPD beitreten, weil sie unsere Werte teilen und weil sie bleiben wollen. Selbstverständlich ist es legitimes Interesse, wenn die Leute auch eintreten, um für oder gegen die Groko zu stimmen. Ich werbe jeden Tag mit Inbrunst darum: Kommt in die SPD, hier könnt ihr mitentscheiden, gestaltet mit und bleibt bei uns.

Ist die Aktion nicht ein Misstrauensbeweis gegen die Mitglieder, die bereits in der Partei sind?

Lemmen Es ist vollkommen richtig, dass wir die Mitglieder, die schon in der Partei sind, nicht entwerten dürfen. Deshalb ist es wichtig, einen festen Stichtag zu setzen, bis zu dem jemand eingetreten sein muss, um mitentscheiden zu dürfen. Aber dieser Stichtag muss in der Zukunft liegen.

Wenn in einer Partei 44 Prozent gegen die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen stimmen, dann sieht das nach einer Spaltung aus.

Lemmen Politische Debatten können hitzig werden, aber wichtig ist, dass man sich danach noch in die Augen gucken kann. Das kann ich zumindest für die Delegation aus NRW bestätigen. 44 Prozent sollten jedem Befürworter ein Hinweis sein, auf diese Kritik auch einzugehen — und es sollte der Union ein Hinweis sein. Der Ball liegt bei ihr.

Also keine Spaltung?

Lemmen Was ich in Nordrhein-Westfalen wahrnehme, ist, dass die Entscheidung von Sonntag akzeptiert wird. Ob die Partei gespalten ist, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen. Dann sehen wir, ob die Debatten weiter sachlich bleiben.

Haben Sie das Gefühl, die starke Kritik an einer großen Koalition ist im SPD-Vorstand angekommen? Sie haben sich kürzlich auf Twitter mit Karl Lauterbach angelegt, der sagte, die Neumitglieder-Initiative der Jusos sei ein Aufruf an SPD-Hasser.

Lemmen Wenn 44 Prozent gegen die große Koalition stimmen, obwohl der Parteivorstand alles in die Waagschale geworfen hat, sollte einem das zu denken geben. Die Leute müssen überzeugt, nicht überfahren werden. Ich glaube, die 44 Prozent sind beim Vorstand nur teilweise angekommen, bei einigen hat der Denkprozess aber eingesetzt.

Lässt sich die nötige Erneuerung mit der Formel auf den Punkt bringen: Die SPD muss wieder sozialer werden?

Lemmen Die SPD muss wieder ein richtiges Fortschrittsprojekt haben und eine Bewegung werden, die es schafft, zu berechtigten Sorgen auch schlüssige Konzepte zu liefern.

Gefühlt ist Martin Schulz an der Parteispitze schon jetzt eine "lame duck" — braucht es neue Köpfe?

Lemmen Zu einer glaubhaften und nachhaltigen Erneuerung gehört neben Inhalten und Strukturen auch eine Erneuerung des Personals, ganz unabhängig von Schulz. Es muss gewährleistet sein, dass auf allen Ebenen Leute jeden Alters eingebunden sind, die nicht gleichzeitig noch in Regierungsverantwortung sind. Damit die Rahmenbedingungen so sind, dass Schulz diese Erneuerung anführen und umsetzen kann, dafür muss noch einiges passieren.

Die sozialdemokratischen Parteien sind in vielen Ländern in der Krise. Gibt es überhaupt eine erfolgreiche Erneuerung, bei der sich die SPD etwas abgucken kann?

Lemmen Die SPD muss zur Kenntnis nehmen, dass die Idee der Sozialdemokratie es in Europa gerade nicht einfach hat. Was den Mitgliederzuwachs betrifft, können wir uns an Labour ein Beispiel nehmen. Die haben ihre Mitgliedschaft gegen den Trend verdreifacht.

Ist die Idee der Sozialdemokratie an sich überholt?

Lemmen Überhaupt nicht. Die Frage der Sozialdemokratie ist aktueller denn je. Ich mache mir nur Sorgen, ob die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik, wie sie gerade aufgestellt ist, die richtigen Antworten gibt.

Wenn die SPD gestalten will, muss sie in die Regierung. Wenn sie das nicht als Teil einer großen Koalition möchte, braucht es eine linke Machtperspektive. Muss es Ziel der erneuerten SPD sein, sich wieder der Linkspartei anzunähern?

Lemmen Die SPD muss immer regieren oder gestalten wollen, aber nur, wenn die eigenen Inhalte auch sichtbar werden. Dafür braucht es auch Gespräche mit der Linkspartei. Gleichzeitig ist das ein weiter Weg ist, weil die Linkspartei in manchen Bereichen kein verlässlicher Partner ist. Stichwort Außenpolitik. Sie macht auch häufig den Eindruck, dass sie sich in der Opposition eingerichtet hat. Aber ich glaube, dass es in allen eher linksorientierten Parteien genug Kräfte gibt, die ernsthaft an einer guten Zusammenarbeit interessiert sind.

Angenommen die SPD-Mitglieder stimmen tatsächlich gegen die Koalition und es gibt weiterhin keine Regierung. Was dann?

Lemmen Der Regierungsauftrag liegt bei Merkel und der Union. Sie muss bereit sein, ein gutes inhaltliches Angebot an die SPD zu machen, das diese auch mittragen kann. Tut sie das nicht, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die SPD bereit ist, die Union in Fragen der Außenpolitik zu unterstützen, wenn diese eine Minderheitsregierung bildet. Es mag sein, dass die Kanzlerin das nicht mag — aber wir haben immer noch eine Verfassung, die gilt.

(seda)
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