Gesundheitsgefahren durch soziale Isolation Einsamkeit - das unterschätzte Risiko

Düsseldorf · Westliche Gesellschaften legten stets großen Wert auf die Stärke des Individuums. Dass damit die Gefahr der Vereinsamung verbunden ist, wurde lange Zeit wenig beachtet. Die Folgen sind beträchtlich.

Alte deutsche Sprichwörter klingen bisweilen so, als wären sie in dunkles, hartes Holz gehauen. "Ein Einsamer ist entweder ein Tier oder ein Engel", lautet eine dieser düsteren Wahrheiten. Heißt: Einsamkeit ist unmenschlich, wer sie ertragen kann, muss schon übermenschliche Fähigkeiten haben. Dass da etwas dran ist, erfährt irgendwann jeder im Leben, wenngleich nicht unbedingt in der Ungeheuerlichkeit, die der Spruch der Altvorderen zum Ausdruck bringt. Aber der Tod eines geliebten Menschen, ein Neuanfang in der Fremde, mangelnde Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, vermitteln eine Ahnung: Einsamkeit, das ist Verlust an Nähe, ein Zustand, den im Unterschied zum Alleinsein niemand anstrebt. Nicht umsonst gilt Isolation in der Moderne als besonders harte Strafe.

Paradoxerweise sind es die modernen Lebensformen, die nicht nur massenhafte, sondern auch dauerhafte Vereinzelung hervorbringen - und eine Einsamkeit, die von sozialen Einrichtungen, Wissenschaftlern und Politikern inzwischen als ernsthaftes gesellschaftliches Problem eingestuft wird. Manfred Spitzer spürt in seinem neuen Buch "Einsamkeit - die unerkannte Krankheit" Ursachen und Folgen nach - mit erstaunlichen Erkenntnissen. So verweist der Ulmer Hirnforscher auf US-Studien, in denen die Entwicklung individualistischer Praktiken und Werte in 78 Ländern über ein halbes Jahrhundert hinweg beobachtet wurde. Ergebnis: Je besser es den Menschen ging, desto eigenständiger und damit auch individualistischer wurden sie. "Dass damit ihr Risiko der Einsamkeit ebenfalls steigt, dürfte den wenigsten klar sein", schreibt Spitzer.

"Einsamkeit ist der Killer Nummer eins"

Was sich hinter diesem Risiko verbirgt, wird indes zunehmend deutlicher: Spitzer hält Einsamkeit gar für den "Killer Nummer eins": Im Vergleich zu den Risikofaktoren Luftverschmutzung, Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen oder starker Alkoholkonsum seien die negativen Auswirkungen von sozialer Isolation auf die Gesundheit größer. So weit würde Maike Luhmann, Professorin für Psychologische Methodenlehre an der Universität Bochum, zwar nicht gehen. Doch auch sie hält es für belegt, dass chronisch einsame Menschen eher depressiv werden, eher Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems entwickeln und im Vergleich zu nicht einsamen Menschen früher sterben.

Wie viele Deutsche einsam sind, darüber gibt es keine verlässliche Zahl. Doch sie war wohl früher kleiner. Zumindest lebten mehr Menschen über einen längeren Zeitraum in größeren Familien. Sie nahmen aktiver am Vereinsleben teil, waren stärker politisch organisiert - und sie wurden nicht so alt. Um das Jahr 1900 wohnten nur 13 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, wo Bindungen häufig fehlen. Heute sind es 50 Prozent. Im Jahr 2050 werden es 70 Prozent sein. 2015 fanden Experten des Meinungsforschungsinstituts Harris Interactive heraus, dass nur 30 Prozent von 1200 befragten Deutschen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren sich gar nicht einsam fühlen. In einer vergleichbaren Studie von 1993 war es noch die Hälfte gewesen.

Aktuell leben 50 Prozent der Menschen in Deutschland in einer Familie. Ihre Zahl nimmt stetig ab, während die Singlehaushalte mit über 17 Millionen einen Höchststand erreicht haben. Knapp zwei Millionen über 80-Jährige leben ganz allein. Bei den 45- bis 65-Jährigen bezeichnet sich jeder Siebte als einsam. 20 Prozent der Vereine haben keine jungen Mitglieder mehr.

Facebook, Twitter und Co bringen die Menschen keineswegs zusammen

Von Anonymität und Vereinzelung sind auch Jüngere betroffen. Spitzer nennt als wesentlichen Grund die Digitalisierung. Facebook, Twitter oder Instagram brächten die Menschen keineswegs zusammen, sondern bewirkten im Gegenteil eine Zunahme von Unzufriedenheit und Einsamkeit. "Die Jahre um die 20 und 30 sind eine Zeit, die mit Erwartungen vollgepackt ist", analysierte Rebecca Nowland, Dozentin für Psychologie an der Universität Manchester, in der "Zeit". Karriere, Job, Familie - die Erwartungen an sich selbst seien enorm gestiegen. "Das führt dazu, dass wir schneller das Gefühl haben, dass etwas mit uns nicht stimmt. Auf der anderen Seite sind wir so sehr damit beschäftigt, unser Leben zu optimieren, dass wir uns immer weniger Zeit für soziale Kontakte nehmen. Bis wir dann abends auf dem Sofa sitzen und uns fragen, wann wir das letzte Mal ein ernsthaftes Gespräch hatten mit jemandem, bei dem wir uns aufgehoben fühlen."

Im Hinblick auf die Individualisierung beobachtet der Soziologe Heinz Bude in den westlichen Industriestaaten einen Stimmungswandel. Die Mehrheit frage sich, ob die Entwicklung in den vergangenen 30 Jahren richtig gewesen sei, so der in Kassel lehrende Wissenschaftler: "War es richtig zu sagen: Wir machen dich zu einem starken Einzelnen, und dann wird alles gut?" Die Menschen hätten mit Problemen zu kämpfen, die auch der starke Einzelne nicht lösen könne. Bude erkennt einen Trend, sich wieder mehr einer Gruppe zuzuordnen - mit ein Grund für den Erfolg von Rechts- und Linkspopulisten.

Der erste Schritt aus der Einsamkeit sei, sich die eigene Situation bewusst zu machen, rät die Britin Nowland. Betroffene sollten sich einer Gruppe anschließen, die ähnliche Interessen habe. Kein neuer Tipp. Aber einer, der helfe.

In den sozialen Medien kursierte vor einiger Zeit das Video von einem kleinen Mädchen und einem alten Mann. Das Kind hatte den Senior im Supermarkt angesprochen, weil er ihr einsam vorkam. Daraus entwickelt sich eine anrührende Freundschaft, die von der Familie des Kindes dokumentiert wurde. Viel wäre wohl getan, wenn alle mehr auf einsame Menschen in ihrer Umgebung achten würden. Allein der Ruf, dem Beispiel Großbritanniens zu folgen, wo sich nun ein Minister eigens um die Bekämpfung der Einsamkeit kümmern soll, wird es nicht richten.

(bew)
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