Berlin Bei Atomunfall geringe Entschädigungen

Berlin · Bei einem GAU im umstrittenen belgischen Atomkraftwerk Tihange stünden nur maximal 3,85 Milliarden Euro für den Schadenersatz bereit. Dabei leben im Umkreis von 100 Kilometern allein in Deutschland 1,2 Millionen Menschen.

Bei einem Super-GAU im umstrittenen belgischen Atomkraftwerk Tihange blieben den Geschädigten rechnerisch nur minimale Entschädigungsbeträge. Für Millionen Geschädigte stünden insgesamt nur maximal 3,85 Milliarden Euro als mögliche Schadenersatz-Summe bereit, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen-Fraktion hervorgeht, die unserer Zeitung vorliegt. Im Umkreis von 100 Kilometern leben dem Papier zufolge nach der jüngsten Schätzung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe allein in Deutschland 1,2 Millionen Menschen. Ein GAU würde noch weit größere Kreise ziehen. Millionen Opfer hätten "nur einen Entschädigungsanspruch im Promillebereich ihres tatsächlichen Schadens", warnte die atompolitische Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl.

Der Reaktor 2 des AKW Tihange liegt nur 60 Kilometer von der deutsch-belgischen Grenze entfernt und erregt die Gemüter vor allem im westlichen Teil Nordrhein-Westfalens. Aber auch die Bundesregierung ist alarmiert, nachdem im stählernen Druckbehälter des Reaktors mehrere Tausend Risse bekannt wurden. Der 40 Jahre alte Reaktor war im März 2014 wegen Sicherheitsmängeln abgeschaltet worden, ging Ende 2014 aber wieder ans Netz. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hat nach eigener Auskunft aber keine rechtliche Handhabe, eine Abschaltung durchzusetzen. Die Städteregion Aachen will nun in Belgien gegen die Laufzeitverlängerung und für das Abschalten des Reaktors klagen.

"Nach Kenntnis der Bundesregierung haften Betreiber von Kernkraftwerken in Belgien maximal in Höhe von 1,2 Milliarden Euro für aus nuklearen Ereignissen entstandene Drittschäden", heißt es in der Antwort des Umweltministeriums auf die Anfrage. Der belgische Staat könne bis zu 125 Millionen Euro für Entschädigungen beisteuern. Wenn nur die in Deutschland in 100 Kilometer Entfernung lebenden Opfer einen Schadenersatz von jeweils 1000 Euro fordern würden, wären die belgischen Haftungsmittel aufgebraucht, so die Grünen. Die Opfer hätten aber im Schnitt tatsächliche Schäden in sechsstelliger Höhe.

Hinzu kämen bis zu 2,5 Milliarden Euro vom deutschen Staat, die allerdings nur Geschädigten in Deutschland zukommen würden. Insgesamt stünden allen Opfern also lediglich bis zu 3,85 Milliarden Euro zur Verfügung. Dies sei nur ein Zehntel der Summe von 37 Milliarden Euro, die nach Auskunft des Ministeriums nach der Katastrophe von Fukushima in Japan bisher an die Opfer gezahlt worden ist. Von einem GAU in Tihange wären aber weit mehr Menschen betroffen, weil die nukleare Wolke nicht über das Meer abziehen könnte. Nach einer Schätzung der französischen Strahlenschutz-Organisation IRSN läge der Schaden bei einem GAU in Frankreich bei über 150 Milliarden Euro.

"Die Haftpflicht des AKW-Betreibers bei einem Atomunfall ist fast überall verantwortungslos niedrig, auch in Belgien", sagte Kotting-Uhl. "Die geltende Atomhaftung dient mehr dem Insolvenzschutz der AKW-Betreiber als dem Opferschutz", kritisierte sie. Die Bundesregierung müsste schon lange Alarm schlagen. "Wir brauchen in Europa deutliche Verschärfungen für die Betreiber, mindestens 25 Milliarden Euro an Vorsorge und unbegrenzte Haftung", forderte sie.

(mar)
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