Plädoyer für den Horrorfilm Hauptsache schlimm

Düsseldorf · Knarrende Türen, Haie mit Riesenhunger und eine Axt im Schädel - für unseren Autor sind Horrorfilme die beste Möglichkeit, den Umgang mit den eigenen Ängsten zu lernen. Generationen nach ihm haben dieses Glück nicht.

 Das könnte jetzt kurz weh tun - Szene aus dem Horrorfilm "Hostel".

Das könnte jetzt kurz weh tun - Szene aus dem Horrorfilm "Hostel".

Foto: Sony Pictures

Wozu ihr Bruder fähig war, erfuhr Judith Myers erst Sekunden vor ihrem Tod. Sie hatte mit ihrem boyfriend geschlafen. Der war sogleich nach Hause gegangen. Nun saß die 15-Jährige vorm Spiegel in ihrem Zimmer und kämmte sich die Haare. Als sie sich umdrehte, stand Michael vor ihr. Er trug ein Clownskostüm, sein Gesicht war hinter einer Maske verborgen. Was wollte der Kleine denn hier? Ihr Blick fiel auf das Küchenmesser in seiner Hand. "Michael!", rief sie und bevor sie darüber nachdenken konnte, was ein 6-Jähriger mit einem Messer anstellen würde, stach er bereits auf sie ein. Es war der 31. Oktober 1963 in Haddonfield, Illinois. Michael Myers hatte seinen ersten Mord begangen.

Michael Myers, der Protagonist der Horrorfilm-Reihe "Halloween", sollte noch viele Morde begehen — und ich ließ mir keinen von ihnen entgehen. Obwohl der erste Teil von 1978 mit Abstand der beste ist. Das erste Mal sah ich in meiner Jugend, er lief im Fernsehen, ich nahm ihn auf Videokassette auf. Danach war die Sache mit mir und den Horrorfilmen klar: Ich sah sie einfach alle.

Die Superbrutalen und die extremst Subtilen

Psycho. Der Exorzist. Das Kettensägenmassaker. Scream. Die Nacht der lebenden Toten. Rosemaries Baby. Saw. The Ring. Der weiße Hai. Nosferatu. The Others. 28 Days Later. So finster die Nacht. Shaun Of The Dead. Poltergeist. Braindead. Carrie. Tanz der Vampire. Ich sah die alten und die neuen. Die Superbrutalen und die extremst Subtilen. Ich sah auch die unbekannteren, die uruguayischen, die mexikanischen, die deutschen. Die Filme, die irgendein Genre begründet hatten, aber selbst unbekannt geblieben waren. Die irgendwo in einem Second-Hand-Fach gefundenen. Ich habe so viele Horrorfilme gesehen, dass ich jedes Mal überrascht bin, wenn mir doch wieder ein Klassiker begegnet, von dem ich noch nie etwas gehört habe.

An Halloween werde ich mich wie jedes Jahr mit einer Freundin treffen, und wir werden zwei Tage lang nur zwei Dinge tun: Junkfood essen und Horrorfilme gucken. Die Frage ist nur: Warum tue ich das? Ich höre kein Metal, habe keine Tätowierungen, keine Piercings, trage keine schwarze Kleidung. Ich habe keine Todessehnsucht.

Vermutlich geht es da schon los. Ich tue fast keine Dinge, von denen Gefahr ausgeht, ich habe das auch als Kind eher selten gemacht. Ohne Helm Rad zu fahren, das war mein Extremsport. Ich bin einfach nicht sehr mutig. Ich habe mir kein Bein gebrochen, habe meinen Blinddarm noch, bin Unfällen bisher entgangen, musste mir vielleicht dreimal in meinem Leben Blut abnehmen lassen.

Mutprobe ohne Gefahr

Horrorfilme aber sind für mich eine Mutprobe, für die ich mich nicht in Gefahr begeben muss. Durch Horrorfilme habe ich gelernt, mit meinen Ängsten umzugehen, den Schrecken durchzuspielen, meine eigenen Abgründe kennenzulernen. Abgebrüht bin ich noch lange nicht, ich erschrecke mich noch wahnsinnig, sonst würde ich es bleiben lassen. Die Filme bieten mir ja alles an, Blut und Grusel, physische und psychische Gefahr, Axt im Schädel und knarrende Türen.

Mit jedem neuen Horrorfilm trete ich freiwillig die Flucht in eine schlimmere Welt an, weil ich sonst keiner schlimmen Welt ausgesetzt bin. Endlich Angst - aber ohne die Gefahr. So lerne ich im Horrorfilm auch das Böse kennen: Es hat kein Motiv. Die meisten Serienkiller töten einfach so. Michael Myers. Der weiße Hai. Leatherface. Das Böse wird immer da sein, und deshalb gehen auch die wenigsten Horrorfilme gut aus. Mindestens zeigt sich das Böse noch einmal kurz vor dem Abspann, um zu signalisieren, dass es zurückkehren wird.

Es ist deshalb aber auch wichtig, dass die Welt des Horrors so schlimm wie möglich ist, ob explizit oder im Verborgenen. Denn weil ich ja immer im Hinterkopf habe, dass mir nichts passieren kann, braucht es das Extreme, damit ich wenigstens ansatzweise der Angst nahekomme, die ich im echten Leben fühlen würde. Ich meine keine abstrakten Ängste wie die Angst vor der Zukunft, davon habe ich genug. Ich meine die ganze konkrete Angst. Vor der Dunkelheit. Vor Schmerzen. Vor dem Sterben in wenigen Sekunden.

Die heutigen Horrorfilme sind real

Durch Horrorfilme habe ich sogar schon eine Strategie gegen die Angst gefunden: Gemeinschaft. Ich habe immer mehr Angst, wenn ich mir Horrorfilme alleine anschaue. Wir haben schließlich auch mehr Angst, wenn wir alleine statt zu zweit durch den Wald gehen.

Allerdings habe ich große Zweifel, dass Horrorfilme für die Generationen nach mir noch den Zweck erfüllen, einen geschützten Zugang zur Angst und zum Schrecken zu bieten. Diese Menschen wachsen mit anderen Horrorfilmen auf. Mit echten. Ihnen stehen nicht nur Filme zur Verfügung, die das fiktive Böse darstellen, sondern auch das reale Böse. Hinrichtungsvideos des IS. Videos vom Attentat in Las Vegas. Live-Streams von Vergewaltigungen auf Facebook. All das kann jeder Elfjährige in Sekunden im Netz abrufen. Es ist ja nicht so, dass die Welt heute eine grausamere ist als vor 50 Jahren, Terrorismus ist keine Erfindung des 11. September 2001. Es gibt nur zu jedem Schrecken nun auch bewegte und bewegende Bilder. Der Horrorfilm "Blairwitch Project" wühlte uns 1999 auch deshalb so auf, weil er durch die verwackelten Kamerabilder so echt aussah. Heute sehen die verwackelten Kamerabilder nicht nur echt aus - sie sind es.

Bei Horrorfilmen kann ich immer noch sagen, dass sie nicht real sind und ich deshalb nicht zum Opfer werden kann. Mit den heutigen Gräuelvideos geht das nicht. Sie sind real und weil sie real sind, könnte auch ich, der Zuschauer, irgendwann zum Opfer werden. Horrorfilme geben auf eine indirekte Art Trost, weil sie uns immerhin die Hoffnung lassen, dass es in Wirklichkeit schon nicht so schlimm ist. Die Videos realer Gräuel nehmen uns diese Hoffnung. Das ist der wahre Horror.

(seda)
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