Gestern noch hinterm Mond

Die EU hat eines der bestgehüteten Geheimnisse Griechenlands gelüftet. Durch die Förderung des Straßenbaus auf der Peloponnes machte sie das einst nur schwer erreichbare Kyparissi zum Traumziel von Bikern, Kletterern und Liebhabern des wilden Stiefmütterchens.

"Himmisakra!" Seit wann bitte fluchen die Geister toter Griechen am helllichten Tag und dann auch noch auf Bayerisch? Beim Blick auf das Chaos, das im Beinhaus des Friedhofs von Kyparissi herrscht, versteht man immerhin sofort den Grund für die Empörung. Nach Totenruhe sieht es da drin nämlich nicht aus: Die Gerippe einer ganzen Sippe sind aus ihren schuhkartongroßen Knochenkästen gekullert. Wurmstichige Hüften, Schädel und Wadenbeine liegen wild über den ganzen Boden verstreut.

"Kruzefix no amoi!", kommentiert die schimpfende Stimme aus einer Felswand, die oberhalb des Friedhofs verläuft. Dort hängt der zur Stimme gehörende Körper ziemlich in den Seilen und beklagt nicht etwa den elenden Zustand der Grabstätte, sondern seine fehlenden Kletterkünste. Dabei hat sich der bayerische Kraxler unter all den Felsen in Kyparissi schon den einfachsten ausgesucht. Mehr als 200 gut ausgebaute Kletterrouten aller Schwierigkeitsgrade stehen in Dorf und Umgebung zur Wahl, und das Potenzial zur Erschließung weiterer Strecken ist groß. Kyparissi gilt als eine der Top-Kletterdestinationen der Welt.

Bis in die 1970er-Jahre hinein lag das kleine Küstendorf im Südosten der Peloponnes noch hinter den zerklüfteten Hängen des Parnon-Gebirges versteckt und war nur über das Meer oder alte Maultierpfade zu erreichen. Den Fortschritt sollte eine Passstraße bringen, die allerdings geriet so furchterregend eng und kurvig, dass sie einem im Nullkommanix den Seelenfrieden raubt. Selbst abgebrühte griechische Autofahrer, denen als Glücksbringer normalerweise die am Rückspiegel baumelnde Gebetskette genügt, sollen kurz vor Beginn dieses schwindelerregenden Weges noch für ein kurzes Gebet in einer Kirche haltmachen.

Tückisch schlängelt sich die Straße um Klippen und durch Schluchten. Mächtige Felsvorsprünge ragen wie Damoklesschwerter über die Fahrbahn, die häufiger von herabgefallenen Gesteinsbrocken als von Leitplanken gesäumt wird. Mal kommt eine Ziegenherde um die Ecke getrappelt, mal huscht ein Mader ins Gebüsch, meist aber bleibt die Straße leer. Zum Glück - für Gegenverkehr fehlen Platz und Nerven.

Unter diesen Bedingungen hat man keinen Blick für die Landschaft, obwohl die wirklich alle Register zieht: Zypressen, so hoch, als wollten sie gegen den Himmel klopfen, schiefe Kiefern, die zirkusreif auf zackigen Felskuppen balancieren, und zwischen Kalkstein und Gestrüpp blühen Schwertlilien, Alpenveilchen und wilde Stiefmütterchen. Dazu wälzt sich eine glitzernde Sonne im kobaltblauen Meer, und über allem ziehen Steinadler, Bussarde und Turmfalken ihre Kreise. Uhus, Vipern und Frösche haben im Parnon-Gebirge einen geschützten Lebensraum gefunden. Wildkatzen und Wölfe soll es dort geben, und der Goldschakal kommt einem zwar nie zu Gesicht, wohl aber zu Ohren. Die große ökologische Vielfalt der Region blieb für viele Reisende nur ein fernes Gerücht und Kyparissi ein Geheimtipp für Privilegierte wie Lady Di und George H. W. Bush, die mit Segeljachten oder Helikopter anreisten. Alle anderen wagten die riskante Fahrt ans Ende der griechischen Welt meist nicht.

Pläne für den Bau einer neuen Straße, die an der Küste entlangführen und Kyparissi mit der Stadt Leonidio verbinden sollte, blieben jahrzehntelang in Schubladen liegen. Kyparissi ist einfach zu schön, lautet die Begründung, die gar nicht so paradox ist, wie sie zunächst klingt. Die touristisch bereits gut erschlossenen Regionen nördlich von Kyparissi sollen nämlich befürchtet haben, dass Reisende über eine neue Straße einfach an ihnen vorbeiziehen würden und den Bau deshalb mit allen Mitteln verhindert haben. Doch auch dank EU-Fördergelder konnte in diesem Jahr die neue Strecke eröffnet werden.

Griechenland ist seitdem um eine großartige Panoramastrecke reicher, und so finden neben Kletterern und Naturfreunden nun auch Motorradfahrer das große Glück im kleinen Kaff, denn das ist Kyparissi auch nach seiner Entdeckung als Touristenziel geblieben. Die ganze Idylle postkartentauglicher Fischerdorfromantik ist noch da: kleine weiße Häuschen mit blaugestrichenen Fensterläden, Katzenrudel, die sich mit der Möwenmafia an der Hafenmole um die letzten Fischgräten streiten, alte Witwen in Schwarz und Tavernen, in denen sie bodenständige Bauernküche servieren. Ein Souvenirshop fehlt hier keinem. Kyparissi ist ein kontemplativer Ort geblieben, in dem nach jahrzehntelangem Dösen in der Isolation noch immer eine hartnäckige Gemütlichkeit hängt.

(RP)
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