Der Dostojewski aus der Bronx

Der Amerikaner Bestsellerautor Richard Price hat mit "Die Unantastbaren" einen neuen, fabelhaften Polizei-Roman geschrieben. Und liefert erneut detailscharfe und mitreißende Innenansichten des New Yorker Polizeibetriebs.

Mit seinem 2010 auf Deutsch erschienenen Roman "Cash" hievte er die bis dato für den anspruchsvollen Polizeiroman bestehende Messlatte in einsame, olympische Höhen, unter der anschließend so ziemlich alles kläglich hindurchtaumelte, was sich in dem speziellen Sub-Genre des klassischen Kriminalromans, dem Polizeiroman, versuchte. Denn der 1949 in der New Yorker Bronx geborene Richard Price, der neben dem Großmeister des Genres, dem diabolischen James Ellroy, und seinem Paten Michael Connelly das Sub-Genre mit dominiert, ist ein im besten Sinne cooler Schreiber. Einer, der von der mitunter schrill-schreienden Metaphorik eines Raymond Chandler herkommend dessen "Sound" verfeinert - und lässig ins Heute übersetzt hat. Zudem sind seine Romane ganz dicht am gesellschaftlichen Geschehen angesiedelt und durchweg vom harten und schnellen Rhythmus der Straße getragen.

Der Menschenbeobachter Price, der als auch Drehbuchautor für Martin Scorsese und als Co-Autor der vielfach ausgezeichneten TV-Serie "The Wire" nachhaltig für Furore sorgte und seither bei eingefleischten Cineasten einen hervorragenden Ruf als exzellenter Dialogschreiber genießt, hat - das demonstriert sein neuer Roman "Die Unantastbaren" eindrucksvoll - ein hellwaches Ohr für Dialoge. Denn seine Polizeiromane sind vor allem Dialog-Romane, Bücher also, in denen insbesondere dem gesprochenen Wort und der Klangfarbe, in der die Dinge verhandelt werden, eine Bedeutung zukommt.

Wie kaum ein Anderer des Genres vermag es Price, übers Gesprochene soziale Zuschreibungen vorzunehmen und Klassenzugehörigkeiten fühl- und erkennbar zu machen. Das eint ihn mit dem frühverstorbenen Franzosen Jean-Patrick Manchette und seinen sogenannten Neo-Polar-Romanen, der französischen Spielart des klassischen Polizeiromans, dessen Geist Manchette selbst einmal mit den Worten treffend umschrieb: "Ein guter Noir-Roman ist immer eine Sozialstudie, die herrschende gesellschaftliche Zustände betrachtet und hinterfragt."

Hierzulande sucht man Autoren vom Schlage der Price und Manchette seit dem frühen Tod des Münchner Schreibers Ulf Miehe vergebens. Dessen Kriminalromane "Puma", "Ich hab noch einen Toten in Berlin" und "Lilli Berlin" hatten seinerzeit mehr als nur angedeutet, wozu Miehe womöglich noch fähig gewesen wäre.

Richard Price indes löst inzwischen mit schöner Regelmäßigkeit das einst von Manchette geforderte Credo für den gelungenen Noir-Roman ein. Gleichwohl steht er dabei - und das demonstriert "Die Unantastbaren" - den Büchern von Ellroy und Connelly näher als Manchettes ureigenen Werken, die einst die Vorlagen bildeten zu Jean-Pierre Melvilles meisterhaften Noir-Epen. Denn seine Romane liefern stets detailscharfe Innenansichten des New Yorker Polizeibetriebs, berichten quasi aus dessen Innern und zeigen den rauen Polizeialltag in ungeschönter Direktheit. So auch in "Die Unantastbaren", in dessen Zentrum Billy Graves steht, ein Mann, "kompakt wie ein Footballer, dazu Hängeschultern, das bleiche Gesicht mit den vor Erschöpfung glasigen Augen gekrönt von einer halben Mistgabelladung frühzeitig ergrauter Haare". Graves bezahlt seinen Alltag mit zu wenig Schlaf, einem zu hohen Koffein-Konsum und der Gewissheit, dass ihm der Aufstieg dauerhaft verstellt ist, seit er bei einer Schießerei einen Jungen schwerverletzt hat - und seither in den Augen seiner Vorgesetzten als Aussätziger gilt.

Was ihm bleibt, sind die alten Weggefährten, vier einstige Vorzeige-Cops, die sich den Namen "Die Wildgänse" gaben - und die Gesetze der Straße lange erfolgreich nach ihren eigenen Auslegungen interpretierten. Und was sie alle eint: Jeder von ihnen hat einen sogenannten "Unantastbaren" im Gepäck, einen, der ihnen seinerzeit durch die Lappen ging - und im Status "Unerledigt" durch ihre Träume spukt. Auch Graves hat einen solchen "Unantastbaren" im inneren Hängeregister. Bis er eines Tages an einen Tatort gerufen wird, an dem ein "Unantastbarer" in einem See aus Blut schwimmt. Graves nimmt die Ermittlungen widerwillig auf, denn ihm schwant nicht Gutes. Und als er zwei und zwei zusammenzählt, kommt ihm der Verdacht, dass eine "Wildgans" offenbar auf eigene Rechnung operiert.

Was anrollt ist Kopf-Kino vom Allerfeinsten, schnell und dicht, dessen eigentlicher Protagonist die Sprache ist. Und es ist die Geschichte eines Mannes, der das ins Visier nehmen muss, was ihm lange heilig war: die alten Weggefährten. Und so scheucht er die "Wildgänse" auf - und gerät dabei in ein Spiel, in dem es nur Verlierer geben kann.

Aus dieser scheinbar mageren Grundkonstellation hat Richard Price einen großen, mitreißenden Polizeiroman gestrickt, der seine Leser in eine Atmosphäre der Vertuschung und des Geheimnisses hineinzwingt, aus der es erst nach 426 atemberaubenden Seiten ein Entkommen für sie gibt. Das Resultat ist ein Buch wie ein dunkel schimmernder Edelstein: kantig und scharf - ein Glücksfall für uns Leser. Denn es sind Schuld-und-Sühne-Epen, die Price schreibt, Bücher, die eher an Dostojewski denken lassen als an Heinrich Böll.

Und genau das macht sie so unwiderstehlich.

(RP)
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