Die letzten 100 Tage des Krieges

Der Zweite Weltkrieg war für Deutschland längst verloren. Doch Hitler träumte noch von Schlachten,die das Schicksal hätten wenden können. Der Tod war allgegenwärtig. Große Verluste gab es in den letzten Monaten auf allen Seiten, auch in der Zivilbevölkerung.

Das Ende schien nah. Im Herbst 1944 kursierte bei vielen in Frankreich vorrückenden US-Soldaten die Hoffnung, Weihnachten zu Hause zu sein. Auch der Generalstabschef der US-Armee, George C. Marshall, erwartete zumindest für Europa das Ende der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs und die deutsche Kapitulation für Anfang Januar 1945. Doch es kam anders. Die blutigsten Kämpfe standen den Amerikanern noch bevor. Im Hürtgenwald bei Aachen verloren in Mann-gegen-Mann-Gefechten zwischen September 1944 und Februar 1945 etwa 30 000 Amerikaner ihr Leben. Die Deutschen traf es auch hart. 1,5 Millionen Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS starben im Kriegsjahr 1945 - die meisten an der Ostfront. Hinzu kamen - so schreibt der Militär-Historiker Peter Lieb - "Hunderttausende Tote unter der deutschen Zivilbevölkerung sowie nicht-deutschen Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und vor allem KZ-Häftlingen".

Im Rückblick ist das, was in diesen Monaten geschah, nur schwer fassbar. Der Krieg war für Deutschland, das den Krieg vorsätzlich entfesselt hatte, schon lange verloren. Die deutschen Truppen hatten Moskau nicht erobern können, hatten in Russland die Schlacht von Stalingrad und die Panzerschlacht von Kursk verloren. Briten und Amerikaner beherrschten die Luft über dem Deutschen Reich und zerbombten die Städte. Sie waren in der Normandie gelandet und durch Frankreich bis an die Grenze des Reichs vorgedrungen.

Doch immer noch träumten Hitler, der Führer und Reichskanzler, seine Gefolgschaft, aber auch etliche Generäle, die es besser hätten wissen müssen, von Schlachten, die das Schicksal noch wenden könnten. Mitte Dezember 1944 starteten sie im Westen die letzte große Angriffsoperation des Zweiten Weltkriegs, die Ardennenoffensive. Die blieb nach wenigen Tagen stecken: Panzer sollten 150 Kilometer nach Westen und Norden vordringen, alliierte Truppen bei Antwerpen einkesseln, doch sie hatten Treibstoff nur für 60 Kilometer. Sie kamen an die Nachschublager der Alliierten nicht heran, viele Panzer blieben wegen Spritmangel liegen. Aber Amerikaner und Briten kamen auch nicht voran.

Zum Jahreswechsel 1944/45 hatten die alliierten Truppen die Grenzen des Deutschen Reichs nur an wenigen Stellen überschritten: So in Ostpreußen, wo im Oktober 1944 sowjetische Truppen ein Massaker verübt hatten, das die NS-Propaganda drastisch herausgestellt hatte, ehe die Wehrmacht die Sowjets - nur für zwei Monate - noch einmal zurückdrängen konnte. Im Westen war Aachen - aber nur Aachen - am 21. Oktober 1944 völlig zerstört von den Alliierten erobert worden.

Ende Januar 1945 hatte sich das Schlachtenbild vor allem im Osten dramatisch verändert. Am 13. und 14. Januar 1945 waren die sowjetischen Truppen zum Großangriff an der Weichsel angetreten. Verstärkungen für die Ostfront hatte Hitler abgelehnt: "Der Osten muss mit dem auskommen, was er hat." Zwei Wochen später wurde in Kurland, in Ostpreußen, in Schlesien gekämpft. Das Konzentrationslager Auschwitz bei Krakau war befreit worden. Millionen Deutsche aus den Ostgebieten flüchteten nach Westen.

Am 4. Februar 1945, die ersten sowjetischen Truppen standen schon 70 Kilometer vor Berlin an der Oder, befahl Hitler, die aus dem Osten kommenden Flüchtlinge sollten zunächst in Dänemark, das von den Deutschen besetzt war, untergebracht werden. Am gleichen Tag trafen sich in Jalta auf der Krim der sowjetische Diktator Josef Stalin, der britische Premierminister Winston Churchill und US-Präsident Franklin Delano Roosevelt. Im Laufe der achttägigen Konferenz einigten sie sich über die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Bildung eines alliierten Kontrollrats, wenn Deutschland bedingungslos kapituliert habe.

Die Konferenz war ein Heimspiel für Stalin. Anders als Roosevelt oder Churchill hatte er einen detaillierten Plan für die Nachkriegsordnung in Europa: Die Sowjetunion sollte Osteuropa dominieren und zur Weltmacht aufsteigen. Dem schwer erkrankten Roosevelt ging es vor allem um die Errichtung einer neuen Weltorganisation, der Uno, und um den Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan. Beides bekam er. Dafür stimmte er oft mit Stalin gegen Churchill, der sich vergeblich für die Unabhängigkeit der Länder Südosteuropas einsetzte.

Diese Konferenz, so vermutet der Militär-Historiker Peter Lieb, wäre anders verlaufen, wenn Hitler nicht die Ardennenoffensive im Westen gegen Amerikaner und Briten gestartet, sondern diese Truppen im Osten gegen die Sowjets eingesetzt hätte. Der größte Teil Deutschlands, auch Berlin, wäre von den Westmächten kontrolliert worden, die Nachkriegsgeschichte wäre anders verlaufen. Hätte, wäre!

Als die Konferenz von Jalta am 12. Februar 1945 endete, war Dresden noch unzerstört. Die historischen Stadtkerne von Freiburg, Heilbronn, Nürnberg, Hildesheim, Mainz, Paderborn, Magdeburg, Halberstadt, Pforzheim, Chemnitz, Trier und Potsdam - so eine Aufzählung des Spiegel-Autors Jochen Bölsche - waren noch intakt. Noch lebten Tausende junger Deutscher, Amerikaner und Briten, die sich im äußersten Westen Deutschlands an der Rur und später am Niederrhein erbitterte Kämpfe lieferten. Die von unerschöpflichem Nachschub gespeiste Feuerwalze der Westmächte schob sich langsam aber unerbittlich auf den Rhein zu.

Was brachte viele junge Deutsche dazu, sich der offensichtlichen Übermacht der Alliierten bis zum Tod zu widersetzen? US-Psychologen befragten Kriegsgefangene nach ihren Motiven. Da gab es den deutschen Staatsterror hinter der Front. Deserteure wurden erschossen und dieser Tod dann auch noch propagandistisch herausgestellt. Aber es gab noch andere Motive. Das wichtigste: Kameradschaft. Wo die Truppen lange zusammenblieben, war die Kameradschaft groß, einer kämpfte für den anderen. Wurden die Verbände, weil viele Soldaten getötet oder verletzt worden waren, neu zusammengestellt, wuchs die Bereitschaft zu desertieren. Peter Lieb, der an der britischen Militärakademie Sandhurst lehrt, präzisiert diesen Befund. Während viele US-Filme den deutschen Durchhaltewillen mit dem Zwang zum Kadavergehorsam erklären, sieht Lieb ein großes Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen deutschen Offizieren und Mannschaften. Das sei in der Wehrmacht enger gewesen als bei den britischen Truppen. Lieb belegt das mit Zahlen. Deutsche Offiziere starben viel häufiger an der Front als britische.

Seit Oktober 1944 war klar, dass die Ostgebiete nicht zu halten waren. Doch Ansätze zur organisierten Flucht wurden abgewürgt, weil deutsche Soldaten sich heftiger gegen die Rote Armee einsetzen würden, wenn sie Menschen zu verteidigen hätten. Die Flucht wurde erst organisiert, als die Sowjets ihre Großoffensive im Januar 1945 begonnen hatten. Tausende bezahlten das mit dem Leben, ertranken auf torpedierten Flüchtlingsschiffen wie der "Wilhelm Gustloff" oder wurden Opfer von Vergewaltigungen. Der Opfermut der Soldaten verlängerte den Krieg. Die Luftangriffe glichen bald einem Rachefeldzug. 600 000 Zivilisten, so wird geschätzt, starben im Krieg durch Spreng-Bomben und bewusst entfachte Feuerstürme. Zugleich wuchs der von Hitlers NSDAP und der SS angeheizte deutsche Staatsterror. Wer aussprach, was doch jeder sah, dass der Krieg verloren sei, musste aufpassen, mit wem er sprach. Viele Menschen wurden wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung erschossen. Der Tod war allgegenwärtig. Vom Staat "für Führer, Volk und Vaterland" glorifiziert. Im Privaten schweigend bedacht.

Meine Mutter packte im Februar 1945 ihre fünf und drei Jahre alten Kinder und fuhr mit einem Militärtransport aus einem Voreifelort in das dem Bombenkrieg ausgesetzte Düsseldorf. Sie wollte nicht der Front ausweichen. Sie wollte, nachdem ihr Mann in Stalingrad vermisst war, wenn es denn sein müsste, mit ihren Eltern und Kindern sterben und schwieg darüber mehr als 60 Jahre. Mit diesem Denken und Schweigen war sie nicht allein. Vielen Familien war das Zusammenkommen das Wichtigste.

Die Todeserwartung endete für uns im April, für alle Deutschen spätestens am 8. Mai 1945. Die Sowjets hatten nach äußerst blutigen Kämpfen Berlin erobert. Die Amerikaner hatten am 7. März bei Remagen die letzte nicht zerstörte Rheinbrücke entdeckt und einen Brückenkopf gebildet. Dann waren die Alliierten bei Wesel über den Rhein gegangen und hatten das Ruhrgebiet eingekesselt. Noch einmal war der Luftkrieg verschärft worden, noch einmal der Staatsterror. Dann war Hitler im Selbstmord geendet, war die blutrünstige deutsche Weltmacht-Illusion zusammengebrochen. Und langsam, langsam entstand ein neues Leben.

(RP)
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