Düsseldorf "Standing Ovations" gibt es auch im Sitzen

Düsseldorf · Dieser spezielle Aspekt öffentlicher Huldigung, der Künstlern zuteil wird, gilt als Adelsprädikat eines gelungenen Abends. Das Publikum kann herzlich klatschen, euphorisch strahlen, gerührt Tränchen verdrücken - das alles zählt in der öffentlichen Bilanzierung nur wenig, wenn es sich keinen Ruck gibt und aufsteht. Erst wenn ein Künstler "Standing Ovations" geboten bekommt, dann hat er alle hin- und hochgerissen. Klatschen klingt oft unentschieden, pflichtschuldig, beflissen. Ein Publikum, das aufsteht, bekundet höchste Begeisterung - und auch Dankbarkeit.

Bevor wir weiter über "Standing Ovations" sinnieren, tut es not, den Begriff zu klären. Im Englischen bedeutete er ursprünglich nicht "Ovationen im Stehen", sondern "lange andauernder Beifall". Jemand, der ein "Standing" hat, steht ja nicht, sondern wirkt robust und unerschütterlich. Trotzdem waren die Engländer und Italiener die ersten, die im Stehen jubelten. Als auch die zurückhaltenden Deutschen begriffen, dass denkwürdige Kunstmomente eine Regung des Publikums erforderten, die über das Klatschen hinausging, benötigten sie eine Bezeichnung dafür - und entlehnten die "Standing Ovations".

Zum einen handelt es sich dabei um eine feierliche Aktion, ähnlich dem Gottesdienst, wenn die Gläubigen zum Evangelium aufstehen. Solange in Philharmonien keine Kniebänke eingebaut sind, scheint das Applaudieren im Stehen der optimale Ausdruck hörerlicher Hinwendung zum Künstler. Ja, der Hörer, der zum Beifall aufsteht, kommt dem Künstler ein wenig näher, wenn auch nur symbolisch; er bewegt sich auf ihn zu und gibt die Sesshaftigkeit auf.

Es ist ein empathischer Akt, zu dem Überwindung gehört: Bis auf jene wenigen Fälle, dass ein Publikum wie bei einem Flashmob sofort geschlossen aufsteht (als stünden alle Sitze plötzlich unter Strom), erhebt sich bei "Standing Ovations" anfangs meist nur einer, dem sich andere anschließen. Der erste Aufsteher bricht dann die Hemmschwelle, und bald ist kein Halten und Sitzen mehr. Manche Hinterleute - so viel Wahrheit muss sein - erheben sich indes nur, weil vor ihnen einer aufsteht und sie jetzt nichts mehr sehen.

Natürlich provozieren Künstler "Standing Ovations" gern. Klavierstücken, die unfassbar brillant den dämonischen Zweikampf des Pianisten mit 88 Tasten schildern, folgt der Stehjubel in Sekundenschnelle. Nach dem leisen Schlussakkord von Brahms' 3. Sinfonie F-Dur gibt es nie "Standing Ovations". Leider.

Als Gradmesser für Kunst taugen "Ovationen im Stehen" natürlich nicht, sie sind kein Indikator für Qualität, sondern nur ein Thermometer für Gewogen- oder Hingerissenheit. Gelegentlich sind sie auch Ausdruck einer leicht peinlichen Selbstfeier. Wer nämlich als Einzelner weit vor allen anderen aufsteht, gibt sich demonstrativ als Sachverständiger zu erkennen, als Beurteilungs-Enthusiast, der dem Saal durch seine singuläre Aktion bedeutet: Hier ist Wesenhaftes passiert, das ich sogleich erkannt habe. Die Ovation im Stehen ist seine Konfession, sie inszeniert er als normativen Vorgang, als Gebot: Steht auf, wenn ihr Kenner sein wollt!

Gelegentlich passiert es indes, dass dieser Einzige auch als Einziger stehen bleibt. Weil alle andere trotz seiner Vorsteherrolle sitzen bleiben. Wenn sie ausdauernd klatschen, leisten aber auch sie - wie gesagt - "Standing Ovations". Im Sitzen.

(w.g.)
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