Oberhausen Der größte Popstar der Welt

Oberhausen · Drake hat seine Deutschland-Tournee vor 10.500 Fans in Oberhausen eröffnet. Der 30-Jährige wurde mit Hits wie "One Dance" und "Work" zum König des Pop. Beschreibung eines Phänomens.

Er tanzt nicht, er zuckt bloß, er wippt in der Hocke und duckt sich weg, und das liegt daran, dass 1500 Lampions so knapp über seinem Kopf hängen, dass er sich daran stoßen würde, wenn er sich aufrichtete. Die Lampen tauchen die Bühne in zart lilafarbenes Licht, es sieht verflixt gut aus. Drake singt dazu einen pastelligen Song über enttäuschte Liebe und Wehmut, und am Ende ist er noch trauriger als am Anfang. Das ist ein Disco-Schlaflied, eine Dancefloor-Reduktion, Schmeichelei und ein bisschen Percussion. Herzschlag ist der Takt. 10.500 Fans flippen schier aus, denn "Hotline Bling" ist außerdem dieses: einer der größten Hits der vergangenen Jahre.

Drake beginnt in der ausverkauften Arena Oberhausen seine Deutschland-Tournee. Der 30-Jährige mit dem stets akkurat frisierten Gesicht ist der erfolgreichste Popstar der Welt, der erste, dessen Lieder mehr als eine Milliarde Mal gestreamt wurden; jeder Ton ein Hit, jedes Album das erfolgreichste des jeweiligen Erscheinungsjahres. Er macht Musik, die man am Freitagabend beim Bieraufmachen ebenso hören kann wie sonntagmorgens beim Bügeln. In den Liedern von Drake gibt es so gut wie nie eine Bridge und einen Refrain, sie kommen ohne Höhepunkte aus, ein langer ruhiger Fluss, keine Euphorie und niemals Exzess, und vielleicht ist gerade das sein Geheimnis. Jedenfalls hat man nach diesem eindrucksvollen, rund zweistündigen Abend keinen besonders gelungenen Vers im Kopf, man kehrt ohne Ohrwurm heim. Was bleibt, ist Atmosphäre, und die fühlt sich gut an, körperwarm wie Starbucks-Kaffee.

Das Publikum ist Mitte bis Ende 20, Mädchen, die es schade finden, dass die Bronx so weit weg ist, und Jungs, die froh sind, dass das W-Lan so gut funktioniert. Viele haben sich schick gemacht - hohe Hacken, Bussibussi, Strassbesatz - und fast jeder schaut ebenso lange auf sein Handy wie auf die Bühne. Drake spielt mehr als 20 Stücke, und jedes bietet ein anderes Fotomotiv. Er weiß: Zu Konzerten von Künstlern, die man aus dem Internet kennt, gehen viele nur deshalb, um sie zu fotografieren und zurück ins Internet zu befördern. Die Lampion-Armee formiert sich zur Doppelhelix, dann zur Welle - sanfte Bewegungen, eine Choreographie aus Farbe und Licht. Drake lässt Flammen aus dem Bühnenboden fauchen, er durchschreitet Lichtgitter und Bodennebel. Es ist minimalistisch, aber hocheffektiv, ebenso wie die Musik. Die Bühne und der Steg, der zu einem Rondell im Publikum führt, sind nah an den Menschen, es liegen kaum zwei Meter zwischen Publikum und Star, und Drake steht alleine dort, im Dunkel erahnt man lediglich Perkussionist, DJ und Keyboarder.

Der Kanadier ist Rapper, aber einer, der seine Zuhörer nicht beschimpft. Drake ist der Friedensnobelpreisträger unter den Kampfdampfplauderern. Er singt über Selbstzweifel, Lebenshader und die blöde Wettbewerbsgesellschaft, und er hat ja recht. Seit er reich ist, klagt er auch darüber, dass er niemandem mehr vertrauen kann. Wäre Drake ein Buch, er wäre nicht "Letzte Ausfahrt Brooklyn", sondern "100 Jahre Einsamkeit".

Drake hat sein eigenes Genre erfunden. Er verwischt die Grenzen zwischen HipHop und anderen Stilen, er flicht R 'n' B ein, Reggae, Soul und Pop. Er stellt Melodie und Gefühl ins Zentrum seiner Musik. Er hat zwei Trademark-Songs: den gepressten, gepfefferten Rap und den geflöteten, skeptischen Liebesschwur. Und statt sich mit Gucci-Holster und Schusswunde im Muskelberg auf Plattencovern zu inszenieren wie einst 50 Cent, sitzt er lieber da wie ein waidwunder Hamlet.

Drake spielt "One Dance" und "Work", Letzteres aber nur kurz, denn im Original sang er es mit Rihanna, die mal seine Freundin war, es aber jetzt nicht mehr ist. Einmal tritt er nach hinten, und aus dem Bühnenboden steigt der Kollege The Weeknd auf, der seinen Über-Hit "Starboy" singt, und das Publikum ist völlig aus dem Häuschen, weil es zwei Konzerte zum Preis von einem bekommt. The Weeknd ist ein Schüler von Drake, überhaupt hat Drakes Sound zur Schulenbildung geführt, seinetwegen dürfen Rapper jammern. Drake selbst bezieht sich auf Kanye West, dessen introspektives Album "808s & Heartbreak" aus dem Jahr 2008 ist seine Heilige Schrift.

Drake arbeitet nach dem Prinzip Einsiedlerkrebs: Er nimmt sich Songs anderer, entkernt sie, benutzt sie als Chassis und baut seine Arrangements hinein. "Hotline Bling" liegt der 70er-Jahre-Hit "Why Can't We Live Together" von Timmy Thomas zugrunde. Drake hat ihn beschleunigt, den Gesang entfernt und den eigenen draufgelegt. Er setzt auf sanfte Bässe und gefederte Beats, sehr trocken produziert. Jedes seiner Lieder kann man gut auf dem Handy hören - auch wenn man gerade keine Kopfhörer dabei hat.

Seine musikalische Qualität würde für Platz zwei in den Charts reichen, auf Platz eins schafft es Drake indes, weil er das Internet beherrscht - buchstäblich. Er weiß, dass Fans nicht auf Neues von ihren Stars warten wollen, sie möchten selbst etwas tun, wollen beschäftigt werden. Also liefert er Videoclips wie den zu "Hotline Bling", wo er sich eigenwillig vor karg ausgeleuchtetem Hintergrund bewegt. Wenige Stunden, nachdem der Clip online war, gab es Hunderttausende Persiflagen und Abwandlungen in Netzwerken wie Instagram, Vine und Twitter. Millionen Klicks, grenzenlose Distribution ohne Plattenfirma, die Spitze der Charts.

Drake erlaubt dem Schwarm, dass der die Kontrolle übernimmt. Er tritt selbstironisch auf, was bei Rappern selten vorkommt. Man weiß wenig über sein Privatleben, er soll mit Jennifer Lopez zusammen sein oder vielleicht auch gerade nicht mehr. Er ist kein Charakter, sondern ein Chamäleon, und diese Vagheit verstärkt den Effekt, dass man etwas auf ihn projiziert, ihm eine Erzählung zu geben versucht, ein Narrativ. Am Gesamtkunstwerk Drake arbeitet jeder Fan gleichermaßen mit. Der Mann mit dem massigen Körper hat die Zehntausend von Beginn an im Griff. Er überwältigt sie, baut in viele Verse das Wort "Oberhausen" ein - Popstar-Folklore. Zwischen den Liedern zeigt er auf einzelne Fans und beschreibt sie kurz: "Das ist für dich, Lady in der weißen Jeans. Und für dich, Mister im Basketball-Trikot." Seine Botschaft: Ich + Du = Wir.

Wenn es stimmt, dass jede Zeit den Star hat, den sie verdient, kann man gerade ganz zufrieden sein.

(hols)
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