Digital gegen den Demografiewandel

In etwa 15 Jahren wird ein massiver Mangel an Arbeitskräften auftreten, weil es an Nachwuchs fehlt. Technologie könnte das kompensieren - auch in Gesundheits- und Pflegeberufen, wo es künftig die stärkste Nachfrage geben wird.

Die Deutschen werden immer weniger und zudem immer älter. In vielen Studien versuchen Wissenschaftler, die daraus resultierende Bevölkerungsentwicklung zu berechnen. Das Problem bei solchen Prognosen: Je weiter sie reichen, desto ungenauer werden sie. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem demografischen Wandel. Laut dem Institut verringert sich bis zum Jahr 2060 nicht nur die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis 20 Jahre von heute 14,8 Millionen auf elf bis zwölf Millionen. Auch die Erwerbsbevölkerung von knapp 50 Millionen könnte um rund ein Viertel absinken.

Die wesentlichen Auswirkungen werden in den Jahren nach 2020 erwartet, wenn die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Bis dahin altert die arbeitende Gesellschaft kontinuierlich. Den größten Anstieg gibt es künftig bei den Hochbetagten ab 80 Jahren. Viel mehr Ältere, weniger Junge, die Rentner ersetzen können. Das wirkt sich erheblich auf den Arbeitsmarkt und einzelne Berufe ganz speziell aus. "Den stärksten Rückgang erwarten wir in der Nachfrage nach Büroberufen", sagt Gerd Zika, Forscher beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Weil heute viele junge Menschen einen solchen Beruf erlernen, kann es künftig ein Überangebot geben.

Bei Gesundheits- und Pflegeberufen wird die Nachfrage nach qualifiziertem Personal dagegen stark steigen, weil ältere Menschen häufiger krank sind. "Das sind jetzt schon Mangelberufe", erläutert Zika. Überhaupt werde in allen sozialen Berufen der Bedarf an Mitarbeitern zunehmen und damit voraussichtlich das Lohnniveau steigen. Das betreffe auch Sozialarbeiter, Heilerzieher und Gemeindereferenten. Weil es aber durch die Demografie weniger Arbeitskräfte gibt, werden andere Lösungen als Menschen gebraucht. Das können IT und Digitalisierung sein.

Mit assistiven Technologien wie Pillendosen oder Sensoren zur Sturzerkennung lässt sich im Alter die Selbstständigkeit verlängern. "Je selbstbestimmter ältere Menschen ihr Leben führen können, umso weniger externe Unterstützung brauchen sie und umso länger können sie in ihrer vertrauten Umgebung bleiben", erklärt Marc Bovenschulte, Leiter Demografischer Wandel und Zukunftsforschung der VDI/VDE Innovation + Technik. Wenn dann der Pflegefall eintritt, könnte wiederum Technologie professionelles Personal und pflegende Angehörige entlasten: Matratzen, die automatisch umlagern, um ein Wundliegen zu vermeiden. Oder Hebehilfen für das Personal. Bovenschulte sieht Demografie und digitalen Wandel im Zusammenhang. "Ob es aber ein Nullsummenspiel am Arbeitsmarkt wird, wenn Automatisierung Arbeitskräfte unterstützt oder gar ersetzt, die durch den demografischen Wandel ansonsten vakant blieben, lässt sich heute nicht beantworten."

"Ich kann mir gut vorstellen, dass kollaborative Systeme eine große Zukunft haben", ergänzt Bovenschulte. Damit ist gemeint, wenn Mensch und Maschine Hand in Hand arbeiten, etwa Roboter ergonomisch belastende Arbeiten dem Menschen abnehmen. Deren Potenzial hat auch wirtschaftliche Gründe: kollaborative Technologien sind günstiger in der Entwicklung und im Betrieb als umfängliche Automatisierung, da sie flexibler einsetzbar sind und weniger den Anspruch haben, alles zu können, was der Mensch kann. "Technik macht den Menschen nicht überflüssig, sie unterstützt ihn zunehmend bei seiner Arbeit." Der Mensch leitet an, die Maschine führt aus.

Dass durch die älter werdende Gesellschaft eine Vielzahl neuer Berufe entstehen, davon geht Bovenschulte nicht aus. Neue Lerninhalte würden in der Ausbildung und Fortbildung angepasst. Allerding bedingt die Digitalisierung neue Berufe, etwa Data Scientists. Das sind Experten, die wissen, wie man Programme schreibt, und die wissen, welche Fragen mit den Analysen zusammenhängen. Also welche Systeme mit welchen verknüpft werden müssen, beispielsweise in der Krebsforschung. Big Data können auch Ärzte zur Diagnose und Therapie nutzen. Das erhöht laut Bovenschulte die Trefferquote. Auch in diesem Fall dient technischer Fortschritt der Gesundheit des Menschen. Generell habe die Technisierung in ihrer Geschichte bislang immer mehr Arbeit geschaffen als Arbeitsplätze verloren gingen.

"Wenn es immer mehr ältere Menschen gibt, steigt die Nachfrage nach Dienstleistungen und Produkten für diese Zielgruppe", ist Oliver Stettes, der das Kompetenzfeld Arbeitsmarkt und Arbeitswelt am Institut der deutschen Wirtschaft leitet, überzeugt. So werden in den kommenden Jahren nicht nur mehr Fachkräfte in den Gesundheitsdienstleistungen, sondern auch mehr Naturwissenschaftler, Ingenieure und Informatiker gebraucht, die Medizintechnik entwickeln. Laut Stettes bleiben alterungsbedingte Entwicklungen eine Herausforderung, vor allem in Berufsgruppen, in denen heute überdurchschnittlich viele über 50 Jahre alt sind. Berufskraftfahrer sind mit 43 Prozent über 50 Jahren die ältesten. Dann folgen Maschinenbau und Bau. Wie groß der Bedarf sein wird, ist heute aber nur schwer absehbar: "Wer weiß, ob nicht durch autonomes Fahren heutige Engpässe bei Kraftfahrern morgen verschwunden sein werden."

(RP)
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