Düsseldorf ALS - wenn die Muskeln nicht mehr gehorchen

Düsseldorf · Bei der "Ice Bucket Challenge" duschen viele Menschen weltweit für die Erforschung der seltenen neurologischen Krankheit ALS.

Die Eisduschen, die sich Prominente und Zivilisten derzeit in einer weltweiten Aktion zugunsten der Erforschung der Krankheit ALS verabreichen, spenden viel Frohsinn und (noch) wenig Erkenntnis. Immerhin ist Aufmerksamkeit bereits ein Gewinn, wenngleich sie vom heutigen Standpunkt aus eher pianissimo zu intonieren wäre. Wir wissen schmerzlich wenig über die Krankheit namens Amyotrophe Lateralsklerose. Auch deshalb ist sie kaum zu behandeln und führt fast immer zum Tod. Die wenigen Therapien, die es gibt, verbessern die Prognose kaum, sie dienen der Stabilisierung des Zustands. Dies sind ja für ALS-Kranke die wichtigsten Etappenziele: dass die Phasen, in denen das Leiden nicht fortschreitet, länger werden. Bis heute gibt es nur ein Medikament, das dem Verlauf einen (begrenzten) Aufschub gewährt.

Statistische Hoffnung Aber weil jede unheilbare Krankheit in statistischer Sicht faszinierende und unerklärliche Ausnahmen erlebt, also Fälle, die doch einige Jahre länger als erwartet überleben, hoffen alle ALS-Kranken, dass sie zu den kurzzeitig oder langfristig Geretteten zählen. Aber sie alle werden früher oder später mit dem zentralen ALS-Problem konfrontiert: dass ihre Muskeln nicht mehr gehorchen, weil sie schmächtig, dünn, leblos, unbrauchbar geworden sind.

Das große Rätselraten um diese Krankheit, an welcher der Maler Jörg Immendorff und der Wolfsburger Fußballer Krzysztof Nowak starben und der Astrophysiker Stephen Hawking schon seit Jahrzehnten laboriert - er leidet an einer seltenen Sonderform -, hängt mit der Unklarheit über die Ursache zusammen. Genetiker entdecken in der Tat auffällige Mutationen; indes gibt es eine allenfalls diskrete Häufigkeit von ALS in Familien. Überraschenderweise finden sich viele Fußballer unter den Erkrankten, weswegen mancher Experte die Häufigkeit von Kopfbällen zur Erklärung herangezogen hat; dazu gab es im Neurologen-Fachblatt "Brain" vor einigen Jahren ein Themenheft.

Zwei gestörte Neurone Die ALS ist ein Zwitter, denn sie vereint zwei Typen von krankhaften Muskelphänomenen. Sie zählt zu den sogenannten Motoneuron-Erkrankungen und betrifft damit jene speziellen Nervenzellen, die unsere Bewegungen, also unsere Motorik, steuern. Von diesen Motoneuronen hat jeder Mensch zwei Typen: Das erste (oder obere) Motoneuron residiert in einer Spezialetage der Großhirnrinde und erreicht mit seinem langen Nervenfortsatz, dem Axon, das Rückenmark. Dort wird die Information an das zweite (oder untere) Motoneuron vermittelt, dessen Zellkörper sich im sogenannten Vorderhorn des Rückenmarks befindet. Die Fortsätze des unteren Motoneurons versorgen unsere Muskulatur.

Steif, verkümmert, gelähmt Bei der ALS sind immer beide Motoneurone gestört. Trotzdem verläuft die Krankheit nie gleich, sondern überaus vielseitig. Im Mittelpunkt stehen die von diesen Nervenschäden bedingten Fehlfunktionen der Muskeln: Sie versteifen (Spastik), verkümmern (Atrophie) und sind schließlich gelähmt (Parese).

Diese Symptome können jeweils einem von beiden Motoneuronen zugeordnet werden. Für die spastischen Lähmungen ist die Degeneration des ersten Motoneurons verantwortlich; sie treibt den Muskeltonus übersteigert nach oben. Der Patient geht langsam und ungleichmäßig. Seine Hände sind nicht mehr so geschickt wie sonst.

Ist das zweite Motoneuron geschädigt, kommt es zu schlaffen Lähmungen durch den Muskelschwund; das ist die sogenannte Amyotrophie. Und an den Muskelfasern lässt sich oft ein feines Flimmern feststellen. Die Muskeln bekommen keine Impulse, ihre sogenannte Innervation ist beschränkt, und in der Folge verkümmern sie. Muskulatur aber, deren Kompetenz nicht abgerufen wird, baut sich selbst ab - ein für ALS-Patienten bedrohlicher Vorgang. Darüber hinaus bekommt der Patient zunehmend Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken, die Zunge arbeitet nicht mehr wie gewohnt. Insgesamt erweist sich die Störung im Bereich des zweiten Motoneurons für den ALS-Verlauf als gravierender; die Symptome des Muskelschwunds stehen im Vordergrund.

ALS-Patienten leben in der Regel nicht länger als drei bis fünf Jahre, nachdem sie die Diagnose bekommen haben. In einer späteren Phase werden die Probleme der behinderten Atemmuskulatur gravierend. Und wenn der Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid immer ungünstiger verläuft, sind ALS-Patienten auch müde und unkonzentriert.

Das Herz schlägt weiter Das ist für sie deshalb besonders bitter, weil ihre geistigen und sinnlichen Fähigkeiten in keiner Weise behindert sind. Sie können denken, sehen, hören, riechen, schmecken wie zuvor; auch ihre Blasen- und Darmtätigkeit verläuft normal; der Herzmuskel arbeitet uneingeschränkt. Bei wachem Sinn bekommen sie mit, wie sie immer quälender nach Luft ringen - bis irgendwann der Zeitpunkt kommt, dass über künstliche Beatmung nachgedacht werden muss. Und spätestens jetzt über eine Patientenverfügung, wie lange man als Betroffener selbst diesen Zustand tolerieren möchte.

Das schließt auch die Frage nach einer künstlichen Ernährung ein. Denn irgendwann werden die üblichen Kommunikationsmöglichkeiten dramatisch eingeschränkt sein, und der Patient kann sich allenfalls über seine Augenbewegungen verständigen. Der Tod tritt dann nicht selten durch Atemversagen ein - oder durch eine Lungenentzündung, die sich entweder im Zug der künstlichen Beatmung oder durch eingeatmete Nahrung oder aspirierten Speichel einstellt.

ALS schleicht sich herein Wichtig also, die frühen Symptome zu erkennen und medizinisch genau einzuordnen, denn ALS schleicht sich dezent ins Leben, sie tritt nicht mit Macht herein. Manchmal beginnen die Probleme zuerst bei den Händen, beim Greifen, beim Schreiben, manchmal beim Sprechen und Schlucken. Zuständig für ALS ist der Neurologe, er prüft die Diagnose durch verschiedene Prozeduren, dichtet sie auch gegen andere Krankheiten ab. Nur wenn wirklich beide Motoneurone beeinträchtigt sind, handelt es sich um eine ALS. In den meisten Verdachtsfällen wird er bei der genauen Untersuchung angesichts vieldeutiger Symptome, die auch bei anderen neurologischen Störungen auftreten, Entwarnung geben können. Manchmal aber leider nicht.

Physiotherapie stabilisiert Trotz der deprimierenden Diagnose gibt es für ALS-Patienten viel zu tun. Vor allem müssen sie die Funktionsfähigkeit ihrer Muskulatur erhalten, und das gelingt sehr gut mit Physiotherapie; sie leitet auch zum Training der Atemmuskulatur an. Ebenso hilfreich ist es, die Patienten und auch die oft hilflosen und überforderten Angehörigen psychisch zu stabilisieren, ihren Lebensmut zu erhalten, sie zu animieren, dass sie den Kopf aus der Schlinge der Trauer und der Angst ziehen. Diese Kompetenz bei der Besinnung auf das Leben ist wichtig; der ALS-Kranke muss die Einsicht gewinnen, dass der Kampf ertragreicher ist als die Resignation.

Hoffnung auf die Medizin Die Medizin entwickelt sich ja auch weiter. Dieser Tage kamen spannende Nachrichten aus der Uniklinik Magdeburg: Dort hat ein Forscherteam durch (zeitlich gestaffelte) spezielle Kernspintomografien an ALS-Patienten festgestellt, dass innerhalb von nur drei Monaten im Verlauf der Erkrankung die Hirnaktivität im motorischen System der Patienten deutlich abnahm. Zugleich war im Hippocampus - einer für die Gedächtnisbildung wichtigen Hirnstruktur - eine erhöhte Aktivität messbar. Diese Zunahme der Hirnaktivität ist dabei typisch für Hirnschädigungen, die erst kurz zuvor entstanden sind. Daraus hoffen die Wissenschaftler Erkenntnisse für künftige Therapien ableiten zu können.

Wer die ALS-Diagnose bekommt, wird fürwahr von Eiswasser geduscht. Ihm ist aber nicht zum Lachen zumute. Vorerst ist und bleibt ALS eine Krankheit im Angesicht eines erwartbaren Todes.

(RP)
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