Studie zu Kindesmissbrauch "Bei Verdacht sollte man nicht zur Polizei gehen"

Düsseldorf · Fast jeder siebte Deutsche wurde als Kind Opfer sexueller Gewalt - das zeigt eine Studie. Expertin Anne-Marie Eitel erklärt, warum es so schwer ist, die Täter zu stellen, und wie man sich verhalten sollte, wenn man einen Missbrauch vermutet.

Wie entdeckt man, ob ein Kind missbraucht wird?
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Foto: AP

Frau Eitel, eine Studie der Universität Ulm zeigt, dass die Zahl der Opfer sexueller Gewalt in Deutschland nicht gesunken ist. Wie ist es möglich, dass oft niemand im Umfeld bemerkt, was vor sich geht?

Anne-Marie Eitel Zum einen liegt das daran, dass die meisten Täter aus dem Familien- oder engen Freundeskreis stammen. Das bedeutet, die Kinder haben eine enge Bindung zu ihnen. Das macht es schwer, gegen sie auszusagen. Zum anderen sind diese Täter unglaublich manipulativ und wissen ganz genau, was sie tun.

Wie meinen Sie das?

Eitel Die Kinder werden von ihnen in eine Beziehung verwickelt, eingeschüchtert, oft auch von der Außenwelt isoliert. Das gelingt ihnen, weil sie vorher teils jahrelang Kinder beobachtet und gelernt haben, wie man sie manipuliert und welches Kind sich am besten beeinflussen lässt. Die Täter sind oft unheimlich sympathisch, regelrechte Kindermagnete, und sie wissen, dass es die Kinder anfangs genießen, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.

 Anne-Marie Eitel leitet die psychoszoziale Beratungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung der Diakonie in Düsseldorf.

Anne-Marie Eitel leitet die psychoszoziale Beratungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung der Diakonie in Düsseldorf.

Foto: Anne-Marie Eitel

Das heißt, die Kinder lassen sich darauf ein?

Eitel Bis zu einem gewissen Grad schon. Sie rutschen, ohne es zu merken, in dieses Verhältnis, weil sie eine hohe Ambivalenz zum Täter haben. Einerseits genießen sie es, im Mittelpunkt zu stehen und wichtig zu sein. Andererseits wollen sie natürlich auch nicht, was dann folgt.

Können sie einen typischen Tätertypen beschreiben?

Eitel Nein, es geht durch alle Gesellschaftsschichten und handelt sich sowohl um Männer als auch um Frauen. Gerade bei den Frauen ist es leider besonders schwierig zu erkennen, was los ist. Es ist gesellschaftlich anerkannt, dass eine Frau ein Kind auf den Schoß nimmt, umarmt oder es an sich zieht. Bei einem Mann würden die meisten schon eher mal genauer hingucken. Untersuchungen legen aber nahe, dass es in der Gesellschaft viel mehr weibliche Täter gibt als angenommen.

Sind die meisten Täter pädophil?

Eitel Nein. Ganz im Gegenteil, die meisten sind Menschen... ich sage mal: wie du und ich.

Was ist dann ihre Motivation?

Eitel Sie nutzen den sexuellen Missbrauch, um Macht zu verspüren.

Aber wenn sich der Übergriff auf Kinder bezieht und nicht auf Erwachsene, ist das doch sehr speziell.

Eitel Kinder sind die Schwächsten in der Gesellschaft. Mit ihnen ist also von vornherein das größte Machtgefälle gegeben.

Woran kann man denn als Außenstehender erkennen, dass etwas nicht stimmt?

Eitel Das ist wirklich sehr schwierig. Auch weil die Kinder oft jahrelang nichts sagen. Sie haben Angst vor den Konsequenzen für die Familie und, weil das Thema so extrem schambehaftet ist. Aber es gibt schon Anzeichen. Wenn ein Erwachsener permanent die Nähe zu einem Kind sucht, es sehr viel anfasst oder anstarrt. Das Problem ist, dass die meisten eine recht gute Intuition dafür haben, ob etwas nicht stimmt. Aber das Thema ist so furchtbar, dass viele lieber wegschauen, als auf das seltsame Gefühl zu reagieren.

Wie sollte man denn handeln, wenn man vermutet, dass ein Kind missbraucht wird?

Eitel Ganz wichtig ist, dass man bei einem Verdacht nicht zur Polizei gehen sollte. Das Problem ist, dass die Polizei ermitteln muss, also auch den Verdächtigen befragt. Gleichzeitig kann es aber sein, dass die Beweise nicht ausreichen und die Ermittlungen eingestellt werden müssen - der Täter weiß jetzt aber, dass er im Verdacht steht, und das kann schlimme Konsequenzen für das Kind haben.

Und was raten Sie?

Eitel Man sollte unbedingt erst bei einer Beratungsstelle anrufen. Die kann dann das richtige Vorgehen einleiten.

Was ist denn das richtige Vorgehen?

Eitel Wie gesagt, es ist ganz wichtig, dass diese Situation nicht nach hinten losgeht. Sonst ist es sehr gefährlich für das Kind. Die verdächtigen Täter dürfen also nicht wissen, dass eine Aussage gemacht wurde. Sonst kann es sein, dass sie das Kind zum Schweigen bringen.

Das bedeutet aber auch, dass das Kind vorerst in der Situation bleiben muss, denn sonst fällt es auf.

Eitel Ja, das stimmt. Und das ist für die Beobachter, etwa Lehrer oder Freunde der Familie, oft extrem schwer auszuhalten. Deswegen beraten wir sie auch und helfen ihnen mit Gesprächen. Manchmal kann es sogar ein längerer Zeitraum sein, bis die Beweise wirklich hieb- und stichfest sind.

Wie sammeln Sie Beweise?

Eitel Einer der wichtigsten Faktoren ist das sogenannte Kinderhören. Dabei spricht einer unserer Therapeuten mit dem Kind, und zwar so, dass es kindgerecht ist und vor Gericht verwertbar. Dafür dürfen keine Suggestivfragen vorkommen, es wird viel gemalt und gespielt. Das Gespräch wird aufgenommen und im Anschluss für das Gericht protokolliert. Das ist eine hochsensible Arbeit, bei der man sehr genau auf die Kinder achten muss.

Ziehen denn viele Kinder ihre Aussage zurück?

Eitel Das ist tatsächlich eines der größten Probleme. Auf den Kindern lastet enormer Druck. Stellen Sie sich vor, ein Kind sagt zu seiner Mutter: "Der Papa oder der Onkel macht komische Sachen mit mir." Das kann die ganze Familie zerstören, teilweise auch Existenzen. Viele Erwachsene wollen es deshalb auch nicht wahrhaben und machen dem Kind ein schlechtes Gewissen. Wenn das passiert, reden die Kinder manchmal jahrelang nicht mehr darüber.

Wie viele Fälle hatten sie im vergangenen Jahr in Düsseldorf?

Eitel 20 Fälle, bei denen es rein um sexualisierte Gewalt ging.

Und ist Ihnen einer besonders im Gedächtnis geblieben?

Eitel Es gab einen Fall von einem sechsjährigen Mädchen, das wurde von einem ganz alten Freund des Vaters missbraucht. Irgendwann hat es sich dann seiner Mutter anvertraut, die die Geschichte aber gar nicht glauben konnte, weil es ja so ein guter alter Bekannter war. Sie ist dann mit dem Kind zu uns in die Beratungsstelle gekommen und im Gespräch stellte sich heraus, dass das Mädchen die Wahrheit sagte. Aber obwohl das so war und obwohl heraus kam, dass er das gleiche mit zwei anderen Mädchen gemacht hat, haben sie nur die Freundschaft abgebrochen - den Täter aber nicht angezeigt. Leider kommt so etwas ganz oft vor.

Wenn Sie den Verdacht haben, dass ein Kind misshandelt wird, hilft die Beratungsstelle der Diakonie weiter. Hinweise werden auch anonym entgegengenommen. Adresse: Fachberatungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung; Diakonie Düsseldorf e.V.; Geschäftsbereich Erziehung und Beratung; Sonnenstraße 14; 40227 Düsseldorf, Tel: 0211 9135436-01

(ham)
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