Alte Rezepturen in der Forschung Mittelalter-Medizin ist noch heute wirksam

Düsseldorf · Seuchen, Quacksalber, Operationen ohne Narkose - die Medizin des Mittelalters steht in keinem guten Ruf. Doch neue Studien zeigen: Die alten Wundärzte hätten heute Chancen.

 Mittelalterliche Instrumente eines Arztes (Symbolbild).

Mittelalterliche Instrumente eines Arztes (Symbolbild).

Foto: Shutterstock/alb_photo

Ein eigentümlicher Geruch zieht aus den Mikrobiologie-Labors durch die Nottingham University. Als hätte man die Düfte aus Döner-Bude und Weinkeller kombiniert. Weswegen immer wieder Kollegen aus anderen Fakultäten vorbeikommen und nachfragen, ob jetzt die Mikrobiologen das Mensa-Essen zubereiten.

Tatsächlich jedoch steht da nur ein Kupferkessel, gefüllt mit einem Gemisch aus Porree, Knoblauch, Ochsengalle und Weißwein, das man neun Tage ziehen lässt. Am Ende pressen die Forscher den Mix durch ein Tuch, so dass eine Salbe entsteht. Sie soll, so steht es in dem vor über elf Jahrhunderten verfassten "Bald's Leechbook" (Balds Arzneibuch), gegen Gerstenkörner helfen. Man verschmiert sie also nicht auf dem Rücken, sondern in der Nähe des Auges. Was nicht gerade prickelnd klingt, doch offenbar Bakterien in die Knie zwingt.

Das steinalte Rezept wurde auf antibiotische Wirkung getestet

Denn die Forscher um Mikrobiologin Freya Harrison testeten das mittelalterliche Rezept auch auf seine antibiotische Wirksamkeit. Dabei zeigte die Mixtur, dass sie nicht nur viele gewöhnliche Bakterien tötet, sondern auch die berüchtigten MRSA-Stämme, gegen die kaum noch ein Antibiotikum gewachsen ist. Jetzt wäre es natürlich möglich, dass dies nur einem bestimmten Bestandteil der Salbe geschuldet ist, und so testete man auch die Einzelzutaten auf ihren Anti-MRSA-Effekt. Doch Porree, Knoblauch und Kupfer töteten zwar Bakterien, aber eben nicht die multiresistenten Stämme. "Es wirkt also die Salbe als Ganzes mit ihrer einzigartigen Wirkstoffkombination", betont Harrison. Ihre Trefferquote liege bei 90 Prozent und damit auf Augenhöhe mit Vancomycin, einem der letzten Speerspitzen im medikamentösen Kampf gegen MRSA.

Wie genau sich die Bestandteile der Salbe gegenseitig unterstützen, weiß bislang niemand. Und ihre mittelalterlichen Erfinder dürften das auch nicht gewusst haben. Aber sie waren wohl geduldige und scharfsinnige Beobachter. "Viele mittelalterliche Rezepte beruhten auf empirischen Versuchen", erläutert Harrison. "Die Verfasser haben beobachtet, was wirkt und was nicht, und hielten das dann fest." Dadurch konnten sie ihre Defizite an Chemie-Wissen und Laborausstattung kompensieren. "Auch sie haben Forschung betrieben und versucht, den Menschen zu helfen", betont Harrison.

Immer mehr Wissenschaftler lenken daher - trotz spärlicher finanzieller Mittel, weil die Pharma-Industrie naturgemäß nur wenig Interesse an Konkurrenz aus längst vergangenen Zeiten hat - ihr Augenmerk auf die Mittelalter-Medizin. Wie etwa auf das "Lorscher Arzneibuch", das um 800 von Benediktinern geschrieben und seit 2013 zum Unesco-Welterbe gehört.

Auf 75 Kalbspergamentblättern beeindrucken dort die Mönche mit einem Medizinwissen, als wenn sie in dem Lorscher Kloster weniger gebetet als klinisch geforscht hätten. So empfehlen sie, den Patienten im Falle einer Pest-Erkrankung zur Ader zu lassen. Die wissenschaftliche Medizin hielt das lange Zeit für kontraproduktiv, weil es den kranken Körper zusätzlich schwächen würde. Doch mittlerweile weiß man: Bakterien vermehren sich umso schlechter, je weniger Bluteisen sie vorfinden. Bei Infektionen kann es daher tatsächlich hilfreich sein, wenn man den Patienten zur Ader lässt.

Johanniskraut wieder voll im Trend

Bei "geistiger Verwirrung" raten die Mönche zu Johanniskraut, was - nach einer langen Phase der Vergessenheit - mittlerweile wieder voll im Trend ist. Das rote Öl der Pflanze hat sich in den letzten Jahrzehnten zur vollwertigen Therapieoption bei Angststörungen und Depressionen gemausert. Genauso wie die Herzglykoside in der Behandlung von Herz- und Kreislaufschwäche. Auch die finden sich bereits im Arzneibuch der Benediktiner, in Gestalt von glykosidhaltigen Heilpflanzen wie Meerzwiebel, Maiglöckchen und Fingerhut. Die letztgenannten wurden als alkoholische Essenz, also quasi als Kräuterschnaps verabreicht, während die Meerzwiebel zerrieben und als Breiumschlag auf schmerzende Venen und Geschwüre des Unterschenkels gelegt wurde.

Die schwarze Johannisbeere nannte man im Mittelalter "Gichtbeere", was verdeutlicht, dass sie nicht als Obst, sondern als Arzneimittel zum Einsatz kam. Wobei man nicht ihre Beeren, sondern ihre Blätter verzehrte, indem man sie als Teeaufguss aufbrühte. Weise Entscheidung! In Studien hat sich gezeigt, dass die Blätter der Beere Entzündungen hemmen und auch den Blutfluss verbessern.

Wie die Verfasser des Lorscher Arzneibuchs gehörte auch Hildegard von Bingen zu den Benediktinern. Sie ist die bekannteste Heilerin des Mittelalters, obwohl bis heute niemand genau sagen kann, was sie geschrieben oder ihr nur untergeschoben wurde. Nichtsdestoweniger sind unter ihrem Namen Heilpflanzen zu Ehren gekommen, die die Schulmediziner lange vernachlässigt haben - etwa die Ringelblume, deren wundheilende Eigenschaften heute bei der Behandlung von Dekubitus genutzt werden.

Äbtissin empfahl Lavendel gegen Altersbeschwerden

Zur Behandlung von Altersbeschwerden und für "ein reines Wissen und einen reinen Verstand" empfahl die Äbtissin den wilden Lavendel. Volltreffer: In einer koreanischen Studie massierte man die Hände von Alzheimer-Patienten mit Lavendelöl, während eine Kontrollgruppe nur Jojobaöl bekam. Zwei Wochen später zeigten die Lavendel-Probanden weniger Ängste und Aggressionen als in der Zeit zuvor.

Dem Ingwer hingegen unterstellte Hildegard, er würde das Triebhafte im Menschen stärken und ihn dadurch zu einem "trottligen Alten" machen. Mittlerweile jedoch hat sich die Gewürzwurzel als Mittel gegen Reiseübelkeit und Arthritis bewährt. Die Heiler des Mittelalters konnten eben auch schon irren.

(RP)
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