Internat in Bad Münstereifel Opfer erlebten "Urkatastrophe"

Köln / Bad Münstereifel · Eine wissenschaftliche Untersuchung zeigt jetzt, wie umfassend sexueller Missbrauch und Erziehungsgewalt am Bischöflichen Internat Josephinum in Bad Münstereifel gewesen sind. Betroffene leiden noch heute.

 Kardinal Rainer Maria Woelki (l.) und Werner Becker, einer der Betroffenen.

Kardinal Rainer Maria Woelki (l.) und Werner Becker, einer der Betroffenen.

Foto: dpa, mb

So viele Zahlen, Daten und Fakten, die die Missbrauchsfälle am erzbischöflichen Collegium Josephinum in Bad Münstereifel zu beschreiben und zu erklären versuchen. Am Ende aber ist es die Sprachlosigkeit und Erschütterung eines Betroffenen, die erahnen lassen, wie unbegreiflich das Leiden der Opfer von einstmals körperlicher und sexueller Gewalt bis heute sein muss. Als nämlich dem Zahnmediziner Werner Becker die Stimme versagt und er keine Worte mehr für das findet, was ihm auf diesem Internat vor über 50 Jahren widerfahren war — und was er noch heute erleben muss.

Denn Mitschüler des 1997 geschlossenen Internats, die selbst nicht unmittelbar von Missbrauch betroffen waren, versuchen, ihn und andere Betroffene immer wieder als Lügner und Betrüger darzustellen. "Für das Seelengerüst ist das äußerst schwierig auszuhalten", sagt Becker. Und obwohl er die Aufarbeitung zu den Vorgängen an der kirchlichen Einrichtung angestoßen und begleitet hat, wird die Erschütterung plötzlich übermächtig. Er senkt den Kopf und bittet die anderen am Tisch, erst einmal ohne ihn weiterzumachen und den Endbericht dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung vorzustellen.

Woelki bittet um Vergebung

Einer von ihnen ist Rainer Maria Kardinal Woelki. Der Kölner Erzbischof bittet für das Versagen auch der Institution Kirche um Vergebung, nennt die Missbrauchserfahrungen der Schüler "die Urkatastrophe ihres Lebens". Dass jungen Menschen viele Jahre von Priestern an dieser Schule schlimmes Leid zugefügt wurde, gehört für Woelki, "zu den schwersten Erkenntnissen, mit denen ich im meinem bischöflichen Dienst umgehen muss".

 Das Gebäude des ehemaligen katholischen Internates "Collegium Josephinum" in Bad Münstereifel.

Das Gebäude des ehemaligen katholischen Internates "Collegium Josephinum" in Bad Münstereifel.

Foto: ingo Mahlberg, DPA

Die von der Mönchengladbacher Professorin Claudia Bundschuh zwei Jahre lang geleitete Aufarbeitung hat anderes im Sinn. Sie ist eine Studie von Betroffenen und für Betroffene. Die 200-seitige Untersuchung ist zunächst ein Signal an die Opfer, dass ihnen - so simpel das klingt - geglaubt wird. Und es soll ihnen gezeigt werden, dass "sie unser Mitgefühl haben", so die Erziehungswissenschaftlerin.

Faustschläge, Tritte, Demütigungen

Das sind Selbstverständlichkeiten, die so selbstverständlich nicht sind. Etwa für die nicht betroffenen Mitschüler von damals, die mit aggressiver Abwehr reagieren und mit Drohanrufen im Vorfeld bewirkten, dass eine Infoveranstaltung abgesagt wurde. Auch sie sind verunsichert, fühlen sich durch die öffentlich gemachten Vorfälle einer vermeintlich unbeschwerten Jugend beraubt. Als einstige Schüler des Collegium Josephinum scheinen sie zu glauben, das Stigma des Missbrauchten tragen zu müssen.

Nach zweijähriger Arbeit und der Auswertung von etwa 100 Berichten von Ehemaligen in Bad Münstereifel steht fest, dass zwischen 1946 und 1996 mindestens sieben Internatsmitarbeiter sexuelle Gewalt ausübten — darunter sechs Priester — und zwölf Personen körperliche Gewalt; unter ihnen waren vier Priester. Wobei körperliche Misshandlung und Erziehungsgewalt ausschließlich im Kleinen Haus für die Kinder des Internats verübt wurde und dort zur Alltagserfahrung gehörte, während es sexuellen Missbrauch in beiden Häusern gab. Neben dem sexuellen Kindesmissbrauch gab es Gewalthandlungen durch Faustschläge und Tritte, verbale Demütigungen und Abwertungen.

Vier beschuldigte Priester leben noch

Dass nach der Untersuchung die Gewalt "als dominantes Erfahrungsmuster" seit den 1970er Jahren deutlich abnimmt, ist vor allem dem gesellschaftlich gewandelten Umfeld zu verdanken. Andere Zeiten, andere Sitten? Einen solch verhängnisvollen Trugschluss gibt es nicht. Es ist psychologisch wie auch ethisch nicht vertretbar, so heißt es klipp und klar in der Studie, Betroffene von damals mit dem Hinweis auf Gewohnheiten früherer Zeiten "eine Würdigung ihrer Opfererfahrung abzusprechen".

Von den beschuldigten Priestern leben noch vier. Obgleich ihre Vergehen zivilrechtlich verjährt sind, gibt und gab es innerkirchliche Verfahren. Sie erhielten Zelebrationsverbot und wurden — wenn noch im Amt — in den Ruhestand versetzt.

Was der Studie folgt? Das Erzbistum wird Therapiekosten für die Opfer in Höhe von 5000 bis 15.000 Euro übernehmen. Außerdem wird beim Personal auf Führungszeugnisse bestanden, und es soll Fortbildungen geben. Und in der priesterlichen Ausbildung wird ein Schwerpunkt auf der "sittlich moralischen Reife des Priesteramtskandidaten" liegen. Werner Becker lenkt den Blick auch aufs Lebensumfeld der Geistlichen und beschreibt den priesterlichen Raum als einen hermetischen Bezirk, in dem sich der Geistliche sicher sein kann, dass Taten nicht zu schnell auffliegen. Zudem ist der Priester noch immer eine moralische Instanz. Werner Beckers Eltern jedenfalls hätten ihm damals nichts geglaubt. Die Abwehrreaktionen seiner Mitschüler scheinen dem gleichen Verhaltensmuster zu folgen.

(los)
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