Dinslaken-Hiesfeld Das Leben hinter der Mauer

Dinslaken-Hiesfeld · 20 Jahre nach dem Mauerfall erzählten Sigrid Paul und Lothar Lienicke im Gustav-Heinemann-Gymnasium aus ihrem bewegenden Leben. Mit Applaus und großem Respekt verabschiedeten die Schüler die Zeitzeugen.

Es ist ganz ruhig im Klassenraum. Ganz gebannt von der Geschichte, die Sigrid Paul aus ihrem ereignisreichen Leben erzählt, hören die Schüler ihr zu. Nur einmal soll es laut werden. Als die Zeitzeugin des Mauerfalls und der friedlichen Revolution im Jahr 1989 fertig ist und sich verabschieden möchte, begleitet sie ein großer Applaus. Es ist die Art und Weise, wie die Gymnasiasten der 75-Jährigen ihren Respekt zollen wollen. Denn ihre Geschichte war nicht nur emotional, sondern auch von Mut geprägt.

Nachdem sie in Dommitsch bei Torgau aufgewachsen war, heiratete sie 1957 Hartmut Rührdanz und zog zu ihm nach Ost-Berlin. Erst mit der Geburt des ersten Kindes beginnt ein Leben voller Schicksalsschläge. Der Sohn kommt krank zur Welt und findet nur im Westen der Stadt eine passende Behandlung. In Zeiten des Mauerbaus muss die Mutter ihr Kind immer wieder allein auf der anderen Seite der Mauer zurücklassen, denn der Sonderpassierschein gilt nur für wenige Stunden. Die Eltern planen deshalb ein halbes Jahr später die Flucht in den Westen, doch der Versuch scheitert und Sigrid Paul wird im Februar 1963 von der Stasi inhaftiert: Sie hatte drei Studenten, die sie bei dem Fluchtversuch kennen gelernt hatte, bei sich übernachten lassen und weil diese später durch einen Tunnel flüchten wollten, wird sie wegen Beihilfe zur Republikflucht verhaftet.

Psychische Folter

"Meine Erstvernehmung dauerte 22 Stunden. Das ist psychische Folter", schildert Sigrid Paul von ihrer Verhaftung. Ihre schlimmste Zeit durchlebt sie jedoch in U-Haft, als sie vier Monate keinen Kontakt zur Außenwelt hat. "Das war die Stätte des Grauens und kein Zuckerschlecken. Tagsüber durfte man auf seiner Pritsche weder sitzen noch liegen, man durfte nur auf einem Hocker ohne Lehne ganz gerade sitzen", erzählt sie – im Klassenraum herrscht ein betroffenes Schweigen. Sigrid Paul wird von einem Gericht in Rostock zu vier Jahren Haft verurteilt.

Ihre Leidenszeit im Gefängnis endet aber bereits nach 19 Monaten, als sie für 40 000 DM freigekauft wird. Das Leben für sie und ihren Mann, der ebenfalls in Haft saß, wird aber nicht leichter. Die Stasi verbaut dem Paar jede Zukunftschance, so dass die Wut auf das DDR-Regime immer größer wird und sie nach der Wiedervereinigung zurückschlägt. Sie bezeichnet Markus Wolf, der jahrzehntelang einen hohen Posten im Ministerium für Staatssicherheit inne hatte, bei einer öffentlichen Lesung als Verbrecher. "Wenn man den Mut hat und etwas öffentlich anspricht, kann man auch etwas bewegen", appelliert sie an die Gymnasiasten, die auf Grund der haargenauen Erzählung kaum eine Frage mehr zu stellen haben.

Nicht in Worte zu fassen

Wie sie den Mauerfall erlebt hätte, fragt ein Schüler dann doch. "Ich saß die ganze Nacht vor dem Radio. Es war nicht in Worte zu fassen und die Erlebnisse sind nicht zu schildern", meint Sigrid Paul.

Buch Ihre Geschichte hat Sigrid Paul unter dem Titel "Mauer durchs Herz" auch zu Papier gebracht.

(RP)
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