Heppenheim Odenwaldschule - System der Verdrängung

Heppenheim · Der Film "Die Auserwählten" enthüllt die Mechanismen von Missbrauch am Vorzeigeinternat.

Als Petra Grust (Julia Jentsch) ihrem neuen Chef (Ulrich Tukur) zum ersten Mal begegnet, trägt er einen Bademantel. Die junge Lehrerin ist zunächst sichtlich irritiert. Petra lässt sich aber erst einmal mitreißen von dem freiheitlichen Geist, der an der Odenwaldschule zu herrschen scheint, und den ihr die Kollegen bestätigen. Sie lebt sich schnell ein und schafft es, die Schüler für ihr Fach Biologie zu begeistern. Nur Frank (Leon Seidel), einer ihrer Schüler, hat eine Mauer um sich herum aufgebaut. Petra spürt, dass etwas nicht stimmt, und versucht zunächst vergeblich herauszufinden, was es ist, bis sie dem Unaussprechlichen näher kommt.

Der Spielfilm "Die Auserwählten" über den jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch von Schülern an der reformpädagogischen Odenwaldschule hat heute Abend trotz einer Kontroverse Premiere im Ersten. Ehemalige Schüler sehen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, der Vorwurf, ein Opfer sei eindeutig in einer Filmfigur wiederzuerkennen, steht im Raum. Der WDR entschloss sich, den Film dennoch auszustrahlen, die Vorwürfe seien nicht zutreffend.

Lange haben viele Missbrauchsopfer vor Scham geschwiegen über das, was ihnen widerfuhr. So lange, dass die Verbrechen verjährten. Eine Annäherung an das, was jahrzehntelang unaussprechlich erschien, ist naturgemäß schwierig. In "Die Auserwählten" ist es allerdings gelungen, sich sensibel und ohne Voyeurismus mit dem Thema auseinanderzusetzen. Regisseur Christoph Röhl war als Student selbst Tutor an der Odenwaldschule. Seinen Film hat er am Originalschauplatz drehen können.

Röhl braucht keine drastischen Bilder, um die Abgründe einzufangen. Vielmehr zeigt er die Schule im weichen Sommerlicht, in Einstellungen, die an Postkartenmotive erinnern. Den herben Kontrast dazu bildet das Innenleben von Protagonist Frank. Der Junge ist einerseits in sich gekehrt und still, andererseits aggressiv und rebellisch. Seine Wut über das, wozu ihn Schulleiter Pistorius unter der Dusche zwingt, versucht er mit Messerwerfen loszuwerden, schließlich verletzt er sich mutwillig selbst. Erst da erkennt sein viel beschäftigter Vater den Hilfeschrei.

Abwesend sind im Film die Eltern, die nur ab und zu in Limousinen vorfahren, um gleich wieder zu verschwinden. Die Kamera hält wiederholt auf feine Schuhe, die ein- und aussteigen, Autotüren schlagen zu. Die Eltern glauben ihren Kindern nicht, wenn die es doch einmal wagen, über das zu reden, was sie erleiden. Ähnlich ist auch die Atmosphäre an der Schule. Die Opfer schämen sich zutiefst, Lehrer wollen nicht wahrhaben, was vor sich geht. "Das gibt's hier nicht, dass sich jemand nicht traut", sagt eine Lehrerin, als das Thema Missbrauch im Lehrerzimmer zur Sprache kommt. Es sind diese Mechanismen der Verdrängung, die Röhl überzeugend in Bilder fasst. In der "Schulfamilie" bleibt letztlich jeder für sich allein; der unergründliche Schulleiter, dessen Zwiespältigkeit Ulrich Tukur mit aasigem Lächeln spielt; die ambitionierte Lehrerin, die sich auflehnt und selbst die Schule verlassen muss; der verzweifelte Schüler Frank. Das besondere Verdienst des Films: Er offenbart, wie in einem Millieu scheinbarer Offenheit Missbrauch möglich wird.

"Die Auserwählten", ARD, 20.15 Uhr

(RP)
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