Wenn die Mutter Krebs hat

Sie versuchen, stark zu sein: Kinder krebskranker Eltern. Doch meist sind auch sie seelisch verwundet und leiden an tiefen Ängsten. Therapeuten können helfen, Benedikt Lucks hat das erfahren.

Was mit ihm los war, hat Benedikt Lucks (16) lange nicht verstanden. Seine Mutter ist ja krank: Sie hatte Lungenkrebs, durchlief eine Therapie, neue Befunde traten auf, wieder Therapie - seit fünf Jahren geht das so. "Rauf und runter", sagt Benedikt. Er selbst habe deswegen aber keine Probleme gehabt - zumindest habe er das immer gedacht. "Ich hab allen gesagt: Mir geht's gut, ich bin optimistisch, meiner Mutter wird es bald besser gehen."

Schlafen aber konnte Benedikt oft nicht. Manchmal hatte er auch keinen Appetit. Und wenn er nachts wach lag, war da dieses neue Gefühl: Etwas Dunkles schwebte dann über ihm. Es kam von hinten, wie ein Vogel. Benedikt hebt die Hände hinter den Kopf, spreizt die Finger, als seien sie das Gefieder eines aggressiven Tiers. "Erst hier habe ich verstanden, dass das die Angst war", sagt Benedikt, "und ich habe gelernt, was ich machen kann, damit sie weggeht."

Hier - das ist das Haus-LebensWert in Köln. 1997 gründete der Leukämie-Spezialist Michael Hallek, Professor für Innere Medizin an der Kölner Uniklinik, diese Initiative, um krebskranke Patienten psychisch zu stabilisieren und sie mit Gesprächsangeboten, Bewegungs-, Kunst- und Musiktherapie zu unterstützen. Neben der medizinischen Versorgung sollten sie auch Hilfe bekommen, um den existenziellen Ängsten zu begegnen, die eine Krebsdiagnose auslöst. Bald rückten auch Betroffene in den Blick des Vereins Haus-Lebens-Wert, die bei einer Krebsbehandlung normalerweise wenig beachtet werden: die Kinder der Patienten. Jungen wie Benedikt, die stark sein wollen für ihre erkrankten Eltern und doch selbst seelisch verletzt sind, bedrängt von Gefühlen wie Hilflosigkeit, Wut und Angst.

Seit einem halben Jahr kommt Benedikt in das Haus-Lebens-Wert. Wie oft er sich meldet, bestimmt er selbst, ganz nach Gefühlslage. "Ich rede über alles, was mich beschäftigt, nicht nur über Krebs", sagt Benedikt. "Danach fühle ich mich immer ganz leicht, als stünde mir die ganze Welt offen, das tut unheimlich gut."

Benedikt hat selbst entschieden, ins Haus-Lebens-Wert zu gehen. Seine Mutter (51) hat dort Musiktherapiekurse besucht und singt in einem Chor mit. "Ich habe zuhause gemerkt, wie gut ihr das tut", sagt Benedikt, "und als sie mir sagte, dass es auch Angebote für Jugendliche gibt, bin ich einfach hingegangen - ohne Erwartungen." An die erste Sitzung mit seinem Therapeuten Jürgen Pfitzner kann er sich gut erinnern, vor allem an das Gefühl hinterher: leicht, wie befreit empfindet er sich jedes Mal.

"Ich kann mit dem Therapeuten über Dinge reden, mit denen ich sonst niemanden belasten will", sagt Benedikt. Eine frühe Erfahrung mit dem Tod ist dabei zu Tage gekommen. Benedikt hatte in Kindertagen eine beste Freundin. Er zog fort, erfuhr erst später durch einen Zufall, dass dieses Mädchen an Krebs gestorben war. Ein Schock, den er lange verdrängt hat. Wirkungslos war er nicht. "Wenn man solche Erfahrungen hervorholt und über sie spricht, kann man sie zurücklassen", sagt er.

Nach den Ferien besucht Benedikt die elfte Klasse, er fühlt sich wohl in seiner Schule. "Bei uns darf jeder sein, wie er ist", sagt er, "da wird niemand fertig gemacht." Trotzdem redet er in der Klasse nicht viel darüber, was daheim los ist und wie es seiner Mutter geht. "Viele können damit nicht so gut umgehen", sagt Benedikt, lächelt, als wolle er die anderen entschuldigen, sagt dann noch "es muss auch nicht jeder wissen." Es gibt aber zwei Lehrer, die er mag und die ihn manchmal fragen: "Wie isset?" Dann kann er erzählen. Oder es lassen.

Die Therapien nutzt der Schüler jedenfalls, um Dinge auszusprechen, die im Therapiezimmer bleiben sollen. Er fand das ungewohnt am Anfang, dass da ein Erwachsener ihm so genau zuhörte. Und Fragen stellte. Und ihm helfen konnte, seine Gefühle zu sortieren. Aber unangenehm war ihm das nie.

Seine Schlafstörungen ließen ziemlich bald nach, der Appetit kehrte zurück. "Ich habe gelernt, Dinge zu tun, die mir gut tun, wenn es mir schlecht geht - alles, was mit Musik zu tun hat zum Beispiel", sagt er, hält kurz inne, sagt dann noch: "Ich habe überhaupt erst gelernt zu spüren, dass es mir schlecht geht."

Die Therapeuten der Initiative "Kinder krebskranker Eltern" im Haus-Lebens-Wert arbeiten auch mit jüngeren Kindern, die noch gar nicht reflektieren können, was in ihren Familien nach der Diagnose Krebs geschieht. Doch natürlich spüren sie die Folgen. "Manchmal kommen Kinder in mein Zimmer, setzen sich in den Sessel und halten sich die Ohren zu", sagt Regine Dülks, Psychotherapeutin beim Verein. "Sie wollen nichts Schlimmes mehr erfahren und darum am liebsten gar nichts mehr hören."

Im Zimmer der Therapeutin stehen Spielsachen im weißen Regal, darunter zwei Püppchen in Krankenhausbetten. Damit stellt die Therapeutin Situationen nach, die auf die Kinder zukommen. Sie spielt Wirklichkeit und achtet darauf, was die Kinder beim Spielen sagen. Oft ist es das, was sie beschäftigt, ohne dass sie das auf Fragen hin äußern würden.

Für sehr junge Patienten gibt es auch Eltern-Kind-Angebote. Zudem beraten die Therapeutinnen in der schwierigen Frage, wie ein Patient dem eigenen Kind sagen kann, dass er Krebs hat. Angemessen, ohne das Kind zu verschrecken, aber auch ohne Geheimnisse aufzubauen. "Wir raten zu großer Offenheit, weil Kinder ohnehin genau spüren, wenn etwas nichts stimmt", sagt Sandra Vohl, ebenfalls Psychotherapeutin in der Initiative. "Das löst dann Fantasien aus, die oft viel düsterer sind als die Realität." Benedikt kann sich nicht daran erinnern, wie er von der Erkrankung seiner Mutter erfahren hat. Es gab nicht den einen Moment, der ihn erschreckt hätte. Eher Wissen, das durchsickerte. Und Befürchtungen, die Angst machten. Er hatte auch Phasen, da fiel es ihm schwer, seine Mutter alleine zu lassen, auf Klassenfahrt zu gehen etwa, wenn daheim wieder Untersuchungen anstanden. "Inzwischen kann ich damit besser umgehen", sagt Benedikt. Er kann auch ausgehen, fröhlich sein, mit Freunden feiern, Schritte ins Erwachsenenleben wagen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Auch der dunkle Vogel hat sich im Moment verzogen. Benedikt braucht im Moment keine Therapie-Sitzungen mehr. Viele Unsicherheiten aber bleiben, auch Phasen, in denen es seiner Mutter schlechter geht und sie sich zurückzieht. Eine Gewissheit aber hat Benedikt gewonnen: Er hat jetzt einen Ort, an dem er über seine Ängste sprechen kann, an dem er nicht stark sein muss - an dem sein Leben ein wenig Leichtigkeit zurückgewinnt.

(dok)
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