Wenn Kaufen zur Sucht wird

Etwa 800 000 Menschen in Deutschland sind kaufsüchtig. Sie unterliegen dem Zwang zu kaufen, egal was, egal wie teuer. Das Kaufen an sich verschafft ihnen Glücksgefühle – und hinterher ein schlechtes Gewissen. Die Uniklinik Erlangen hat eine Therapie entwickelt, um Betroffenen zu helfen.

Erlangen Jedes Schaufenster ist eine Verlockung: Schuhe, Taschen, Hosen. Schon an der Kasse beginnt das Herz zu klopfen, das schlechte Gewissen sich zu melden. Sobald die Einkäufe nach Hause gebracht sind, werden sie keines Blickes mehr gewürdigt. So geht es schätzungsweise 800 000 kaufsüchtigen Menschen in Deutschland. Zwischen sechs und acht Prozent der Bevölkerung sind zudem stark kaufsuchtgefährdet – Tendenz steigend. Trotzdem ist Kaufsucht meist ein langjähriges, heimliches Leiden, das bei den Betroffenen und ihren Angehörigen zu einem enormen Leidensdruck führt. Die meisten leiden zudem unter Depressionen, Angst- oder anderen psychischen Störungen oder sind Alkohol abhängig. Ganz abgesehen von den immensen Schulden, die die meisten Kaufsüchtigen im Laufe der Zeit anhäufen.

Die Uniklinik Erlangen hat mit einer speziellen Therapie Kaufsucht-Patienten erfolgreich behandeln können. Nahezu jeder zweite Teilnehmer hat durch die Gruppentherapie sein Kaufverhalten in den Griff bekommen. "Mit unserer Studie konnten wir in Deutschland erstmals eine wirksame Therapie gegen Kaufsucht wissenschaftlich nachweisen", sagt Studienleiterin Astrid Müller aus der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung am Universitätsklinikum Erlangen. Die Therapie setzt auf Ersatzhandlungen. Die sechs bis acht Teilnehmer pro Gruppe lernen in den zwölf wöchentlichen Therapiestunden, Ersatzbeschäftigungen zu finden, etwa Sport zu machen oder mit Freunden einen Kaffee trinken zu gehen, anstatt sinnlos einzukaufen.

Die Betroffenen müssen sich bewusst machen, was bei dem Kaufprozess passiert, um ihre Einstellung zu ändern. Dann müsse ein Ventil für sie gefunden werden, ihren Impuls auszuleben. "Eine Kaufsucht geht auf eine Störung der Impulskontrolle zurück", erklärt Müller. Zu dieser Art Störungen gehören auch zum Beispiel die Pyromanie (krankhafte Brandstiftung) und die Kleptomanie (der zwanghafte Drang zu stehlen). Als kaufsüchtig gilt, wer wiederholt den Drang verspürt, etwas zu kaufen, das er gar nicht benötigt. Dem Kauf geht häufig ein Gefühl starker Erregung oder Spannung voran, gefolgt von tiefer Befriedigung und Glück. "Es geht den Betroffenen um den Akt des Kaufens, nicht um das Gekaufte", erklärt Martina de Zwaan, Leiterin der Psychotherapeutischen Abteilung am Universitätsklinikum Erlangen. Gemeinsam mit den Therapeuten arbeiteten die Teilnehmer an praktischen Dingen: Wie kann ich künftig angemessen mit Geld umgehen? Was tue ich, wenn mich die Kauflust doch wieder packt? Dazu gehört auch, Kreditkarten abzuschaffen. Denn wenn man bar bezahlt, gibt man viel bewusster Geld aus.

Entwickelt hat die Therapie James Michell mit seiner Arbeitsgruppe von der Universität von North Dakota, USA. "Prinzipiell orientiert sich die Therapie an den üblichen verhaltenstherapeutischen Strategien, die ganz spezifisch auf das Problem ,Pathologisches Kaufen' angewendet werden", erklärt Müller. Die Begleiterkrankungen der Teilnehmer wurden zwar auch behandelt, vorrangig aber deren Kaufsucht.

Das amerikanische Therapiemodell wurde ins Deutsche übersetzt und angepasst. Die amerikanische Kaufsuchtstudie war ein Pilotprojekt, das zuvor nicht wissenschaftlich untersucht war. Das haben die Erlanger Forscher nun nachgeholt. Vier Jahre lang wurde das Modell an 51 Frauen und neun Männern im Alter zwischen 20 und 61 Jahren getestet. Kaufsucht ist kein typisch weibliches Phänomen – wie häufig vermutet wird. Tatsächlich sind Frauen und Männer gleich häufig betroffen, jüngere jedoch häufiger als ältere. "Frauen melden sich lediglich eher für derartige Studien als Männer", erklärt Müller. Vor gut zwei Jahren begann die erste offizielle Gruppe in Erlangen mit ihrer Therapie. Auch ein halbes Jahr danach seien die Teilnehmer nicht rückfällig geworden. "Die Behandlung führte bei den meisten Patienten zu einer Reduktion der Kaufattacken. Bei knapp der Hälfte normalisierte sich das Kaufverhalten. Aber nur wenn die erlernten Strategien weiter angewendet werden, ist der Erfolg nachhaltig", sagt Müller. Um Kaufsucht in den Griff zu bekommen müssten Betroffene zunächst einmal zur Einsicht gelangen, dass sie krank sind und Hilfe brauchen. "Da es bisher nur wenige spezielle Therapiezentren gibt, sollten sich Kaufsüchtige zunächst an einen Psychotherapeuten wenden", rät Müller. Auch Selbsthilfegruppen könnten helfen, um den Kaufsucht-Strudel zu stoppen.

Kaufsüchtige gibt es in allen Einkommens- und Bildungsschichten. Generell würden kaufsüchtige Frauen eher Kleidung, Schuhe, Kosmetik, Lebensmittel und Haushaltsgeräte favorisieren. Männer hingegen eher moderne Technikartikel, Sportgeräte, Autozubehör und Antiquitäten. Die Betroffenen können sich nach dem Kauf meistens nicht mehr über die erstandenen Waren freuen.

Für die Zukunft plant Therapeutin Müller, differentielle Therapieangebote zu entwickeln und die Verhaltenstherapie mit Selbsthilfeangeboten zu vergleichen.

(RP)
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