Absage an türkischen Minister Pressestimmen: "Man ist geneigt, vor der Stadt Gaggenau den Hut zu ziehen"
Die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland (und die Absagen in Köln und Gaggenau) sind von den Zeitungen reichlich kommentiert worden. Ein Blick in die Meinungsspalten.
Rheinische Post: "Wer ein Vereinstreffen oder ein Theaterstück anmeldet, tatsächlich aber öffentlich türkische Regierungspropaganda machen will und dabei ein Aufpeitschen der Stimmung mit Folgen für die örtliche Sicherheit im Sinn hat, dem muss eben mit den Mitteln des Ordnungs- und Veranstaltungsrechts Einhalt geboten werden. Auch ein Erdogan-Anhänger dürfte verstehen, dass man den Staat nicht hinter die Fichte führen darf."
Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Was kann ein Rechtsstaat machen, wenn das eigene Land als Propagandabühne von einem anderen, autoritären Staat benutzt wird (...)? Die Antwort kann nur lauten: Rechtsverletzungen anprangern und dagegen vorgehen, aber die eigenen Regeln (...) streng beachten. Natürlich kann hierzulande ein ausländisches Regierungsmitglied bei privaten Gastgebern auftreten. Eine Veranstaltung darf jedenfalls nicht abgesagt werden, schon gar nicht eine in geschlossenen Räumen, weil man ein Verkehrschaos oder Gegendemonstranten befürchtet. Das wäre eine Verstoß gegen die Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Es ist Aufgabe des Staates (...) zunächst den Grundrechten der Veranstalter Geltung zu verschaffen. Das bietet auch die Gelegenheit, der Türkei zu zeigen, was Freiheit tatsächlich bedeutet: Sie kann mit Zumutungen verbunden sein. (...)"
Süddeutsche Zeitung: "Die Vorstellung ist schwer erträglich, dass der türkische Justizminister Reden in Deutschland schwingt, während die Justiz in der Türkei aufgrund äußerst fragwürdiger Vorwürfe Journalisten auf unabsehbare Zeit inhaftiert, selbst wenn sie sich, wie Yücel, sogar gestellt haben. Es ist zudem unglaubwürdig, wenn türkische Politiker ihre Justiz in diesem Zusammenhang als unabhängig bezeichnen, obwohl deren Richter seit Monaten zu Hunderten aus politischen Gründen suspendiert werden. Aber das Ertragen von Unerhörtem gehört zur Demokratie, auch wenn es eine ihrer anstrengendsten Herausforderungen ist. Und der Rechtsstaat muss sich an seine Regeln halten, gerade wenn er sich von einem Staat unterscheiden will, der Recht nur behauptet."
Tagesspiegel (Berlin): "So geht es nicht weiter mit uns und der Türkei. Nötig ist klare Kante statt Geschmeidigkeit. Wandel durch Anbiederung ist der falsche Ansatz. Erdogan muss demonstriert werden - auf der Straße und politisch-amtlich –, was Demokratie braucht. Erdogan darf wegen 'eklatanter Verletzung der Menschenrechte' in der Türkei kein Visum für die Bundesrepublik erteilt werden."
Kölner Stadt-Anzeiger: "Während Berlin sich krampfhaft um diplomatische Contenance müht, treibt Ankara das Katz-und-Maus-Spiel mit dem deutschen Staat und seinen Institutionen ungerührt weiter. Mitglieder der türkischen Regierung drängen derzeit in so großer Zahl und so dichtem Takt nach Deutschland, dass sie hier bald Kabinettssitzungen abhalten können. Um solche Auftritte zu verhindern, begeben sich die Kommunen mit dem Rückgriff auf feuerpolizeiliche Regularien oder das Versammlungsrecht gezwungenermaßen auf eben jenes Niveau, auf dem Erdogans Handlanger als 'private Veranstalter' die Behörden nasführen. Richtig wäre es dagegen, auf der zwischenstaatlichen Ebene eine politische Entscheidung zu treffen. Wann endlich deklariert die Bundesregierung Erdogan und seine Administration mit ihrem gegenwärtigen Gebaren als das, was sie in Deutschland längst sind? Unerwünschte Personen."
Stuttgarter Zeitung: "Es scheint, als habe die nicht immer einfache Struktur des Rechtsstaats auch ihre Vorteile. Denn für Bundes- oder Landesregierung gibt es kaum eine Möglichkeit, die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker juristisch zu unterbinden. Politischen Einfluss auf die Türkei kann Berlin im Augenblick kaum nehmen. Da ist es charmant, sich an das Polizeirecht zu erinnern. Und das so kurzfristig, dass kaum Gelegenheit für Widersprüche bleibt. Wenn dann noch der Bundesjustizminister spontan Zeit hat, dem Ministerkollegen ein Gespräch anzubieten, hätte der sogar gesichtswahrend die Heimreise antreten können."
Südwest Presse: "Unversehens findet sich die badische Kleinstadt Gaggenau im Kreuzfeuer der großen Politik wieder. Da hilft es nichts, wenn Bürgermeister Michael Pfeiffer betont, der Auftritt des türkischen Justizministers Bekir Bozdag sei allein aus Sicherheitsgründen untersagt worden: Die Entscheidung ist zutiefst politisch – und sie ist richtig. Wenn die türkische Regierung nun beklagt, ihr werde im selbst ernannten Mutterland der Meinungsfreiheit der Mund verboten, ist das scheinheilig. Zwar schützt die Meinungsfreiheit auch die Verbreitung politischer Ansichten, die die Abschaffung dieser Freiheit beinhalten – aber wehren darf sich ein Gemeinwesen doch gegen solchen Missbrauch. Und nichts anderes wäre ein Wahlkampfauftritt, der für ein System wirbt, in dem die Grundrechte noch weiter eingeschränkt würden, als es in der Türkei heute schon der Fall ist."
Schwäbische Zeitung: "Es ist ein Dilemma, in dem die Bundesregierung steckt. Wie umgehen mit den wahlkämpfenden Ministern, die Erdogan nach Deutschland schickt? Wenn sie für das Präsidialsystem werben dürfen, macht sich Deutschland zum Steigbügelhalter für einen Systemwechsel, der Erdogan so ziemlich alle Staatsmacht in die Hände legt und die Demokratie beschneidet. Verhindert die Politik derlei Auftritte, setzt sie sich dem Vorwurf aus, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken. Da es auf die Frage also keine einfache Antwort gibt, braucht es eine mutige. Und die muss lauten:
Angela Merkel muss klare Kante für die Demokratie zeigen."
Passauer Neue Presse: "Dass der türkische Minister Bozdag in Deutschland nicht für Erdogans Diktatur werben kann, ist eine gute Nachricht. Tagelang hatte man auf ein solches Zeichen der Zivilcourage gewartet – nun ist es da. Auch wenn der Bürgermeister von Gaggenau mit den Gefahren eines überfüllten Saales und nicht mit politischen Gründen argumentiert – das Ende vom Lied ist der berechtigte Ausfall einer Veranstaltung, die es nie und nimmer hätte geben dürfen. Denn das Einpeitschen von Wählerstimmen für ein diktatorisches System verfolgt nach deutscher Rechtsauffassung eindeutig verfassungsfeindliche Ziele."
Westfalen-Blatt: "Deutsche Kommunen müssen sich hinter Regeln und Vorschriften verstecken, um die Auftritte türkischer Minister zu verhindern, die bei uns Wahlkampf für die Machtausdehnung ihres Präsidenten machen wollen. Im Zweifel findet die Bürokratie immer irgendwelche Hürden: ob Brandschutz oder andere behördliche Bedenken. So lange die Bundesregierung gegenüber der Türkei nicht deutlich macht, dass sie türkischen Wahlkampf auf deutschem Boden untersagt, werden sich solche Tricks und Spielchen – Minister spricht als Privatperson, Wahlkampf wird von Strohmännern veranstaltet – fortsetzen."
Münchner Merkur: "Das deutsch-türkische Verhältnis hat sich in den vergangenen Tagen dramatisch verschlechtert: Es ist schlicht unerträglich, dass ein deutscher Journalist für seine Arbeit in der Türkei in Untersuchungshaft sitzt, während die dafür verantwortliche Regierung die Meinungsfreiheit in Deutschland ausnutzt, um bei den hier lebenden Türken für eine weitere Mehrung ihrer autokratischen Macht zu werben. Die bange Frage von Bundespräsident Joachim Gauck, ob die Türkei ein Rechtsstaat bleiben wolle, ist fast schon beantwortet. Schließlich ist der 'Welt'-Korrespondent Deniz Yücel kein Einzelfall – systematisch geht Recep Tayyip Erdogan gegen kritische Geister vor. Ein Zustand, den die Bundesregierung viel zu lange viel zu passiv begleitet hat."
Badische Neueste Nachrichten: "Immerhin, die Stadt Gaggenau untersagte gestern kurzfristig den umstrittenen Auftritt von Justizminister Bekir Bozdag aus Sicherheitsgründen. Eine Niederlage für die gut geölte AKP-Wahlkampfmaschinerie. Die Bundesregierung hält sich demonstrativ zurück und verschanzt sich hinter dem formal richtigen Hinweis, dass noch gar nicht feststehe, ob, wann und wo Erdogan auftreten wird. Das Schweigen Berlin hat allerdings auch einen triftigen Grund. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist praktisch in der Hand des Autokraten vom Bosporus, der gleich zwei Faustpfänder besitzt, mit denen er die Bundesregierung de facto erpresst – die rund 2,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und den Korrespondenten der 'Welt', Deniz Yücel, dem in der Türkei eine langjährige Haftstrafe droht."
WAZ: "So sehr man den Mut der Kommunen loben muss, sich mit den Mächtigen in der Türkei anzulegen, so sehr muss man kritisieren, dass sie dabei von der großen Politik allein gelassen werden. Entweder die Bundesregierung verweigert den türkischen Ministern die Einreise und riskiert so einen diplomatischen Eklat mit Ankara. Oder aber Berlin ermöglicht die umstrittenen Auftritte – und verteidigt das vor den eigenen Bürgern mit dem Verweis auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit. Abtauchen aber ist Feigheit: vor Ankara und vor den eigenen Bürgern."
Mitteldeutsche Zeitung (Halle): "Das Ziel ist berechtigt, der Weg verschwiemelt. Mit dem Rückgriff auf feuerpolizeiliche Regularien oder das Versammlungsrecht begeben sich die Verantwortlichen in den Kommunen gezwungenermaßen auf eben jenes Niveau, auf dem Erdogans Handlanger als 'private Veranstalter' die Behörden nasführen. Richtig wäre eine politische Entscheidung auf zwischenstaatlicher Ebene. Wann endlich deklariert die Bundesregierung Erdogan und seine Administration mit ihrem gegenwärtigen Gebaren als das, was sie in Deutschland längst sind? Unerwünschte Personen."
Südkurier: "Man ist geneigt, vor der Stadt Gaggenau den Hut zu ziehen. Tagelang lässt sich die Bundesregierung vom türkischen Staatschef und dessen Ministern, Helfern und Handlangern auf der Nase herumtanzen. Präsident Erdogan ist finster entschlossen, sein Land in eine Diktatur zu verwandeln, und führt einen Propagandafeldzug, dessen Ausläufer bis nach Deutschland reichen. Der deutsche Rechtsstaat weiß dem nichts entgegenzusetzen – bis eine Kleinstadt im Südwesten Nein sagt und die angemietete Halle abriegelt. Erdogans Minister muss draußen bleiben. Dennoch bleibt es bestürzend, dass die Stadt Gaggenau fehlende Parkplätze vorschieben muss, um den unerwünschten Gast fernzuhalten. Derartige Verlegenheitslösungen können nicht der Weisheit letzter Schluss sein."
Landeszeitung (Lüneburg): "Soll die Bundesregierung Werbeauftritte von Erdogan und seinen Getreuen auf deutschem Boden verhindern, und sich so dem vorhersehbaren Konter aussetzen, Berlin habe das Recht verwirkt, Verstöße gegen die Meinungsfreiheit in der Türkei zu kritisieren? Ja, unbedingt. Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist ohnehin rettungslos zerrüttet. Und es ist gerade für eine Demokratie, die aus den Trümmern einer barbarischen Diktatur erwuchs, eine Frage der Selbstachtung, auf eigenem Boden Propaganda für ein offensichtlich undemokratisches Ziel zu unterbinden. Bei diesem Ziel muss Berlin nicht den Steigbügelhalter geben. Autokraten verstehen nur machtvolle Signale. Zeit, eines zu geben."
Flensburger Tageblatt: "Oppositionspolitiker machen es sich zu leicht, wenn sie ein generelles Verbot des türkischen Wahlkampfs auf deutschem Boden fordern. Je mehr die Türkei Menschenrechte schleift, desto stärker müssen unsere Verantwortlichen Grundprinzipien der Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit skrupulöser Rechtsstaatlichkeit wahren. Hinter verschlossenen Türen kommen Berlins Regierungspolitiker allerdings nicht umhin, mit einem Nato-Partner Tacheles zu reden, der seine neuen Verbündeten in Peking und Moskau sieht. Dabei ist die wirtschaftliche Abhängigkeit der Türkei von der EU noch immer größer als umgekehrt."
Rheinpfalz (Ludwigshafen): "Die Absage wird vom Regime Erdogan flugs umgedeutet. Sie wird als propagandistischer Schlagstock gegen das angeblich undemokratische Europa geschwungen. Hätte Bozdag seine Rede vor 400, 500 Leuten halten dürfen, sie hätte nie und nimmer die Wirkung erzielt wie die jetzt nicht gehaltene. Mutmaßlich Hunderttausende verfolgen den Fall Gaggenau. Die Bundesregierung sitzt ohnehin längst in der Ankara-Falle. Denn in der Flüchtlingspolitik hat sich Berlin in eine ungute Abhängigkeit vom Erdogan-Regime begeben. Vor diesem Hintergrund ist es einigermaßen absurd, wenn aus den Regierungsfraktionen laut gerufen wird, Erdogans Getreuen werbende Redeauftritte hier zu verbieten – und zugleich das mit Milliarden Euro versüßte EU-Türkei-Abkommen zu begrüßen, mit dem der eben noch gescholtene angehende Diktator Europa die Flüchtlinge vom Hals hält."
Badisches Tagblatt: "Mit der Entscheidung, den Wahlkampfauftritt des türkischen Justizministers durch einen verwaltungstechnischen Kniff zu unterbinden, hat die Stadt Gaggenau zumindest in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft viel Beifall geerntet. Dass gerade der Justizmister für die Verfassungsreform in seinem Heimatland im Badischen trommeln sollte, dafür hatten vor dem Hintergrund der Verhaftung des deutschen Journalisten Deniz Yücel in der Türkei nicht mehr viele Bürger in diesem Land Verständnis. Wer lässt sich schon gern auf der Nase herumtanzen? Dass die türkische Regierung andererseits die Absage nutzt, war zu erwarten. Denn mehr propagandistische Wirkung als eine solche Absage hätte ein Auftritt vor ein paar hundert Menschen im Badischen auf keinen Fall zeitigen können."