Fachkräftemangel und mehr Betroffene Pflegefall Deutschland

Düsseldorf · Rund zehn Millionen Deutsche haben bereits heute einen Pflegefall in der Familie. Und die Zahl der Betroffenen wird steigen – aber das Land ist nicht vorbereitet. Eine Annäherung am internationalen Tag der Pflege.

Rund zehn Millionen Deutsche haben bereits heute einen Pflegefall in der Familie. Und die Zahl der Betroffenen wird steigen — aber das Land ist nicht vorbereitet. Eine Annäherung am internationalen Tag der Pflege.

Die Diagnose stellte Theresa Mielkes Leben auf den Kopf. Drei Jahre ist es her, da erklärten die Ärzte ihren Lebensgefährten für dement. Sagten ihr, dass der damals 63-Jährige nicht mehr für sich allein sorgen könne, auch nicht allein bleiben dürfe. Seitdem ist für Theresa Mielke nichts mehr so, wie es einmal war. Jeder Tag sei ein Kampf, erklärt die berufstätige Frau. Gegen den Alltag. Gegen eine unheilbare Krankheit. Gegen das Vergessen. Ihren wahren Namen will sie nicht öffentlich lesen. Denn die 49-Jährige hat Angst vor dem Unverständnis anderer. Dabei ist Theresa Mielke keine Einzelkämpferin.

Schon heute gibt es zehn Millionen Menschen, die einen Pflegefall in der Familie haben. Das geht aus einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der R+V-Versicherung aus dem Jahr 2012 hervor. Pflege findet vor allem in der Familie statt: 62 Prozent der Deutschen, die pflegebedürftige Angehörige haben, kümmern sich selbst um die Betreuung. Rund sechs Millionen Menschen pflegen ihre Angehörigen zumindest teilweise selbst. Eine typische Pflegende ist laut der Studie 61 Jahre alt, hat zwei erwachsene Kinder und ist nicht berufstätig. "Für viele ist das eine Aufgabe, die einen Großteil des eigenen Lebens prägt", sagt Renate Köcher, Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts.

Drastischer Frachkräftemangel

Jeder Dritte, so hat es das Statistische Bundesamt berechnet, wird im Jahr 2060 über 65 Jahre sein, jeder Siebte bringt es dann auf über 80 Jahre. Angesichts der demografischen Entwicklung wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 von derzeit rund 2,5 Millionen (550 000 davon leben in NRW) auf 3,4 Millionen steigen. Hinzu kommt, dass laut Experten ein immer größerer Anteil der Alten professionelle Pflege benötigen wird. Heute werden viele Betroffene häufig daheim gepflegt, überwiegend von ihren Töchtern. Die Menschen, die bald alt sind, haben aber erstens weniger Kinder. Die Kosten für die Pflege müssen also auf weniger Schultern verteilt werden. Und zweitens sind die Töchter, die Pflegebedürftige haben, häufiger berufstätig als bisher.

Für die Pflegedienste bedeutet das vor allem eines: Sie werden viele neue Kunden gewinnen. Demgegenüber steht jedoch ein drastischer Fachkräftemangel in der Pflegebranche. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung könnten in Deutschland im Jahr 2030 rund eine halbe Million Vollzeit-Pflegekräfte fehlen. Auch, weil der Beruf körperlich und psychisch hart ist.

Und auch die Pflegekräfte werden immer älter. Ein Problem, das Helmut Wallrafen-Dreisow, Geschäftsführer der Sozialholding Mönchengladbach, allzu gut kennt. Der 58-Jährige hat sich vor einigen Jahren einen Demografiebericht für sein Unternehmen erstellen lassen. Das Ergebnis: 235 von 875 Beschäftigen werden spätestens 2019 in den Ruhestand gehen. Wallrafen-Dreisow: "In der Pflegebranche brauchen wir deshalb längere Lebensarbeitszeiten." Der Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege, Karl-Josef Laumann (CDU), spricht sich zudem für eine höhere Wertschätzung der Pflegekräfte aus. "Sie muss sich vor allem auch in einer angemessenen Vergütung zeigen", sagt Laumann.

Pflegereform in zwei Schritten

Die Pflegeversicherung gibt es seit 1995. Ihre Einnahmen stiegen von 8,4 Milliarden Euro auf 23 Milliarden 2012, die Ausgaben von fünf Milliarden auf zuletzt 22,9 Milliarden Euro. Wer Hilfe braucht beim Waschen, beim An- und Auskleiden, beim Essen und Kochen, wird in die Pflegestufen 1 bis 3 eingeteilt. Bei den gängigen Leistungen in der häufigsten Stufe 1 reicht die finanzielle Spanne von 235 Euro Pflegegeld bis zu rund 1100 Euro für Heimpflege pro Monat.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) will dieses Konzept nun mit einer großangelegten Pflegereform ausweiten. Künftig sollen die Pflegebedürftigen anstatt in drei in fünf Stufen eingeteilt werden. Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, kündigte an, dass "bereits ab dem nächsten Jahr insgesamt bis zu 45 000 Betreuungskräfte in den Pflegeeinrichtungen beschäftigt werden können".

Die Regierung plant die Pflegereform in zwei Schritten. Im kommenden Jahr soll der Beitragssatz für die Pflege um 0,3 Prozentpunkte erhöht werden, was den Pflegekassen rund 3,6 Milliarden Euro einbringt. Davon sollen 2,4 Milliarden Euro eingesetzt werden, um Leistungen zu verbessern. In einer zweiten Stufe soll der Beitragssatz 2017 nochmals um 0,2 Prozentpunkte steigen. Weitere 1,2 Milliarden Euro pro Jahr sollen in eine Kapital-Rücklage für die Pflegeversicherung fließen. Dieses "Sondervermögen" soll über 20 Jahre angespart werden, um die Pflege für die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1959 und 1967 zu finanzieren.

1,4 Millionen Demenzkranke

Mit der Reform sollen auch Demenzkranke als pflegebedürftig eingestuft werden. Ihre Zahl beträgt nach Angaben der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft 1,4 Millionen. Bis 2050 wird mit einer Verdoppelung gerechnet. Bis zu 250.000 Betroffene nehmen nach Schätzungen von Experten noch keine Leistungen in Anspruch.

Auch Theresa Mielke hat lange gebraucht, bis sie über die Erkrankung ihres Lebensgefährten sprechen konnte. "Wer erzählt schon gern, dass der Partner die Toilette nicht mehr findet?", erklärt sie. Und dann war da noch die Suche nach einem Pflegeheim. Zweieinhalb Jahre habe sie ihren Lebensgefährten zu Hause versorgt — dann sei alles zu viel geworden.

Fast 60 Einrichtungen habe sie abgeklappert, bis sie fündig wurde. Seit einigen Monaten lebt ihr Partner mit anderen Alzheimer-Patienten in einer Wohngemeinschaft. 1100 Euro erhält Theresa Mielke vom Staat, um Miete, Pflegedienst und Hauswirtschaftskraft zu bezahlen. Doch Theresa Mielke will auch diese Hürde meistern — für sich, für ihren dementen Partner, für den Kampf gegen das Vergessen.

(RP)
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