"Gymnasium wird neue Hauptschule"

Interview Dieter Neumann, Bildungsforscher an der Universität Lüneburg, über den nordrhein-westfälischen Schulkompromiss, die neue Sekundarschule, die Lehren aus dem Pisa-Schock, das gegliederte Schulsystem, kleine Klassen und kleine Schulen

Herr Professor Neumann, beginnt in Nordrhein-Westfalen jetzt das goldene Zeitalter der Bildungspolitik?

Neumann Das hat schon so oft begonnen... Wenn wir alle Reformversprechen der Vergangenheit zusammenzählen, müssten wir ja längst in einem Bildungsparadies leben. In der Regel sind die Erwartungen zu hoch – am Ende erweist sich der Gegenstand, also Schule und Schüler, als widerspenstig.

Immerhin soll jetzt zwölf Jahre lang nicht über Strukturen diskutiert werden.

Neumann Gut möglich, dass man das in sechs Jahren bereut. Es hat nie eine Phase der Ruhe in der Schuldiskussion gegeben.

Ist die Sekundarschule das logische Ergebnis der jahrelangen Diskussionen nach dem Pisa-Schock?

Neumann Die Pisa-Daten sprechen eigentlich eindeutig für entschlossene Differenzierung nach Leistungsstand. Die Diskussion hat aber eine neue Dynamik bekommen, als man den Erfolg der Finnen mit ihren Gemeinschaftsschulen entdeckte. Nach zehn Jahren ist der Mainstream deshalb ein ganz anderer: Längeres gemeinsames Lernen ist sinnvoll, die Reformpädagogik hat sich durchgesetzt.

Lässt sich Schulpolitik überhaupt nach wissenschaftlichen Kriterien machen? Man hat den Eindruck, zu jeder Studie gibt es eine Gegenstudie.

Neumann Das liegt daran, dass die Studien oft selbst interpretierbar sind. Zur Behauptung, längeres gemeinsames Lernen sei fruchtbar, gibt es zum Beispiel eine klare Datenlage: Wo länger gemeinsam gelernt wird, sind die Unterschiede zwischen starken und schwachen Schülern geringer. Das kann man begrüßen. Man kann aber auch sagen: Im differenzierten System sind die Unterschiede deswegen größer, weil die starken Schüler so konsequent gefördert werden.

Rot-Grün betont, längeres gemeinsames Lernen mache das Bildungssystem leistungsstärker und gerechter.

Neumann Wenn Schüler mit riesigen Leistungsunterschieden dauernd im direkten Vergleich stehen, kann das auch demotivierend wirken. In Schulen mit einem ähnlichen Leistungsspektrum lässt sich leichter Motivation aufbauen. Unlogisch ist es außerdem, wenn man gleichzeitig die größtmögliche individuelle Förderung propagiert: Entweder wirkt das längere gemeinsame Lernen aus sich heraus, oder es ist die Förderung, die den Unterschied ausmacht. Da kann man sich offenbar nicht entscheiden.

Die CDU sagt, Bewährtes bleibe bei dem neuen Schulsystem erhalten. Ein Selbstbetrug?

Neumann Die CDU in Nordrhein-Westfalen hat einen Schritt zum zweigliedrigen Schulsystem gemacht. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse decken das aber eben nicht – die Daten, die wir heute haben, können nur die Forderung stützen, dass wir nach Begabung differenzieren müssen.

Was heißt das für die Gymnasien?

Neumann Von den Zahlen her wird das Gymnasium die neue Hauptschule – wir werden einen neuen Ansturm auf das Gymnasium erleben, weil die Schwierigkeiten der Sekundarschule mit ihren unterschiedlichen Schülern groß sein werden.

Und für die Qualität des Unterrichts?

Neumann Ich bezweifle, dass das Gymnasium den Standard halten kann, den es über Jahrzehnte hatte. Das Gymnasium läuft Gefahr, sich zu Tode zu siegen. Durch seinen Erfolg könnte es Schaden nehmen.

Der Trend geht ziemlich eindeutig zu einem zweigliedrigen Schulsystem: Gymnasium plus x. Ein Unglück?

Neumann Dass Kommunen vor Ort ein möglichst großes Schulangebot erhalten wollen, ist ja verständlich. Geht man streng von den Lernbedingungen aus, ist es keine richtige Entwicklung: Man muss den Schüler da abholen, wo er mit seiner Leistung steht. Dafür sind kleine Systeme immer von Vorteil.

Was braucht Nordrhein-Westfalen jetzt am dringendsten?

Neumann Die Verkleinerung der Klassen und den Erhalt kleiner Schulen. Kleine Schulen haben ein viel besseres soziales Klima, weil sie überschaubarer sind. Wenn die Landesregierung Land- und Dorfschulen erhalten will, muss man sie darin unterstützen.

Frank Vollmer führte das Gespräch.

(RP)
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