Kolumne Gesellschaftskunde Reaktion statt Reflexion

Mit der Beschleunigung des Lebens nimmt auch die Ungeduld zu, sich mit komplizierten Themen zu befassen. Aber schnelle Maßnahmen-Kataloge sind die falsche Antwort.

Im Laufe der Geschichte scheint es immer wieder Phasen zu geben, da Menschen den Fortschritt als entfesselte Beschleunigung erleben, als ein Zuviel und Zuschnell, das sie überfordert. Oft hat das mit technischen Neuerungen zu tun. Das war so, als die ersten Eisenbahnen durch das Land dampften und Menschen mit ungekannter Geschwindigkeit durch den Raum beförderten. Damals veränderte sich das Empfinden für Distanz und Zeit. Und weil das elementare Dimensionen sind, kam wohl jenes Gefühl von Ohnmacht auf, das in jedem Beschleunigungsempfinden steckt.

Mit der Digitalisierung hat wieder so ein Schub eingesetzt. Nun sind es Informationen, die um den Globus jagen und erneut verändern, wie wir die Welt wahrnehmen. Denn die Richtung hat sich verändert, man muss keine Beschleunigungsungetüme mehr besteigen, um Neues zu erfahren. Die Informationen kommen zu uns - und fordern schnelle Reaktionen. Menschen müssen heute filtern, was auf sie eindringt. Und damit umgehen, dass die Reaktionszeiten dafür immer kürzer werden. Das gilt im Privaten wie in fast allen Berufen vom Handwerker, der online bestellt wird, bis zum Wissenschaftler, der in globalen Forschungsgruppen arbeitet.

All das hat Auswirkungen auf unser Verhalten. Wenn belohnt wird, wer möglichst schnell reagiert, geht Reaktion bald zulasten der Reflexion. Die Zeit, in Ruhe nachzudenken, abzuwägen, bevor man entscheidet, schwindet. Natürlich spürt man das auch im politischen Diskurs. Keine Zeit mehr für Erklärungen. Was zählt, ist der Sieg im schnellen Schlagabtausch. Bei manchen Themen mag das angemessen sein, eine lebendige Öffentlichkeit braucht hitzige Debatten. Gerade so komplexe Fragen wie Ursachen von und Umgang mit Migration sollten nicht zu einem Thema verkommen, in dem es nur noch um Abschiebezahlen und Rückführabkommen geht, aber kaum um das ganze Bild: um Ausbeutungsmechanismen, Marktabschottung, darum, wie vermeintlich strengere Gesetze zwar nicht die Zahl derer senkt, die bereits in Deutschland sind, wohl aber deren Chancen, hier einen guten Bildungsweg zu gehen und sich an der Zukunft des Landes zu beteiligen.

Viele Menschen versuchen aufrecht, sich ein Bild zu machen. Doch sie müssen sich gegen einen Zeitgeist stellen, der schnelle Reaktionen fordert, der sich keine Zeit mehr nehmen will, um Entwicklungen einzuschätzen, deren Ursachen uns etwas angeht. Es ist verführerisch, sich nur noch mit "Maßnahmen"-Diskussionen zu befassen. Sie lassen jedes Problem als schnell beherrschbar erscheinen. Die Nachwirkungen kommen später.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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