Badeort Brighton Auf Bärensuche in Südengland

Düsseldorf · Die Möwe sitzt auf einem Zaun, der in der Gartenanlage des Royal Pavilion ein Beet schützt. Warum sie dort sitzen mag, interessiert den Vierjährigen im Moment brennender als das, was hinter ihm liegt: die märchenhaften Kuppeln des Palästchens von George IV. Schon als Prinzregent verbrachte der Prince of Wales viel Zeit in Brighton. 1820 ließ er dem Pavilion das exotische Gesicht verpassen, das ihn bis heute wie eine tropische Orchidee zwischen den Fassaden der engen Innenstadt wirken lässt.

Es ist ein kühler Morgen, und im Pavilion ist es gewiss schön warm. Doch wer mit kleinen Kindern reist, braucht Zeit. Eine Stunde haben wir beim Frühstück gesessen, während der Knabe Kellner und Gäste beobachtete, unter ihnen viele Kinder. Es sind Schulferien. Das Hotel ist fest in der Hand englischer Familien, für die die Stadt zwischen Ärmelkanal und dem Hügelland der South Downs der Inbegriff familienfreundlichen Badelebens ist.

Dafür bürgen außer dem Strand und zahlreichen Ausflugsmöglichkeiten in der Umgebung vor allem jede Menge Amüsierbetriebe von "Sea Life", dem ältesten durchgängig geöffneten Aquarium der Welt, bis zu den Karussells auf dem Brighton Pier. Aber auch die Tatsache, dass Brighton als Spaß-Destination Tradition hat. Schon der Prinzregent kam zum Spielen und Planschen hierher, und sein schriller Palast besitzt auch für Kinder Unterhaltungswert.

Schließlich schaffen wir es in den Royal Pavilion. Der Palast, der von außen indisch aussieht, von innen chinesisch, aber nirgends authentisch - entworfen wurde alles von Engländern, die die Insel nie verlassen hatten - könnte bunter, fantastischer und verspielter kaum sein. Die riesige Palme an der Kuppel des Speisesaals trägt Früchte, wie sie noch kein Botaniker gesehen hat. Der Kronleuchter darunter ist so groß wie unser Auto. Ein toller Palast, urteilt das Kind. Aber wo ist endlich Pu, der Bär?

Die Heimat des Bären, den der Autor A.A. Milne zur Kinder-Weltliteratur beisteuerte, zählt zu den Attraktionen, die in Tagesausflugsnähe liegen. Während die seltsamen Begebenheiten und unendlichen Dialoge zwischen Christopher Robin, seinem Bären Pu und den weiteren Helden Ferkel, I-Ah, Eule, Tiger, Kaninchen, Känga und Klein Ruh Erwachsenen bisweilen zäh erscheinen mögen, begeistern sie Kinder auch bald 100 Jahre nach ihrem Erscheinen. Auch wir pflügen uns immer wieder durch die launige Übersetzung von Harry Rowohlt. Und so frohlockte das Kind schon im Vorfeld der Reise nach Brighton: "Pu, wir besuchen dich bald!"

Dazu müssen wir den Ashdown Forest erreichen - uns als Hundertsechzigmorgenwald bekannt. Wir fahren durch das Städtchen Lewes, in dem Anne von Kleve lebte, die glücklich geschiedene vierte Gattin des Frauenverschleißers Heinrich VIII., die Schriftstellerin Virginia Woolf sowie ihre Schwester, die Künstlerin Vanessa Bell.

Wir aber fahren weiter, um den Bären in der Nähe seines Heims in Hartfield aufzuspüren. Ganz leicht ist es nicht, da die Cotchford Farm, die der 1882 geborene Autor Alan Alexander Milne 1925 kaufte, um dort mit Frau Dorothy und Sohn Christopher Robin die Freuden des Landlebens zu genießen, in Privatbesitz ist und nicht besichtigt werden kann.

In "Pooh's Corner", einem Häuschen an der Hauptstraße Hartfields, stapeln sich Plüschtiere, Bücher, Plastikgartengeräte, Regenschirme, Schlüsselanhänger, Küchenhandtücher, Taschen, Gummistiefel, T-Shirts und alle denkbaren Gegenstände, auf die sich die Interpretationen von Milnes Protagonisten durch Walt Disney+ aufbringen lassen.

In einem Teestübchen, das sich an die Verkaufsfläche anschließt, bemalen Kinder Zeichenvorlagen rund um den Disney-Bären. Es herrscht heitere Kindergeburtstags-Atmosphäre. Die jungen Besucher scheint die kommerzielle Ausrichtung von "Pooh?s Corner" ebenso wenig zu stören wie die zwanglose Vermengung des Original-Pu mit der Figur aus der Disney-Industrie. Wir fügen uns und kaufen eine Karte für "Pooh Country", Schaufel, Harke, Fensterbild und Schirm sowie, für später, ein Exemplar von "The House at Pooh Corner" in englischer Sprache.

Mit der Karte machen wir uns daran, die Schauplätze der Geschichten zu erkunden. Wir betrachten die Sandgrube, in der Känguru-Kind Ruh Sprünge übt. Wir halten am Parkplatz "Piglet" und schauen in die Heidelandschaft hinaus. Kein Gebäude stört das Panorama - Ashdon Forest, einstmals Abbaugebiet von Eisen, ist heute eine Landschaft der Luxusklasse, in der jeder Stein geschützt ist und Baugenehmigungen nahezu unmöglich zu bekommen sind. So sieht die Natur hier tatsächlich aus wie die Landschaft, in der das intrigante Kaninchen an einem nebligen Morgen den Bären von sehr geringem Verstand nebst Ferkel dazu verleitet, Tiger zu "verlieren" - um so dem allzu ungestümen Tier ein wenig Demut beizubringen.

Das Kind nimmt es als gegeben hin, dass der Graben vor uns jener sein muss, in dem die drei sich vor Tiger verstecken. Dass sich die Original-Stofftiere Christopher Robins, die Milne als Vorbilder Pus und seiner unsterblichen Gefährten dienten, in einem Museum im fernen New York befinden - leblos noch dazu - muss ich gar nicht enthüllen.

Auf dem Weg zur Pu-Brücke, die in einem waldigen Tal ein Flüsschen überspannt, kommen uns auf den Bärenspuren pilgernde Familien entgegen. "Es gab einen breiten Weg, fast so breit wie eine Straße, der von der Außenwelt zum Wald führte, aber bevor er zum Wald kommen konnte, musste er den Fluss überqueren", heißt es im Buch "Pu baut ein Haus": "Deshalb war dort, wo er ihn überquerte, eine hölzerne Brücke, fast so breit wie eine Straße, und auf beiden Seiten waren hölzerne Geländer." Die 1907 errichtete Brücke sieht genauso aus wie auf den filigranen Illustrationen von Ernest H. Shepard (1879-1976).

Wir suchen Stöcke, werfen sie an einer Seite der Brücke ins Wasser und schauen zu, wie sie an der anderen wieder zum Vorschein kommen - und welcher der Stöcke es als erster schafft. Das Spiel heißt "Pu Stöcke" und lässt sich an jedem Bach mit Brücke nachspielen. Und doch ist es hier etwas Besonderes. Der Zauber südenglischer Landschaft, den Milne in seine Bärengeschichten zu transportieren verstand, wirkt: Ohne ihn zu sehen, fühlen wir uns Pu nahe.

"Was ist mit unseren Schuhen passiert?" fragt das Kind später mit Blick auf unsere Schlamm bespritzten Füße. "Der Waldweg war so matschig", erläutere ich. Das Kind weiß es besser: "Eule hat nicht geputzt."

Der südenglische Badeort Brighton eignet sich bestens für Urlaub mit Kindern. Karussell und Pier sorgen für Zeitvertreib - oder man begibt sich in die Heimat eines gewissen Bären mit geringem Verstand.

(dpa)
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