Immer mehr Deutsche sind dement Wenn ein alter Mensch sein Gedächtnis verliert

Dorsten · In Deutschland leiden rund 1,3 Millionen Menschen an Demenz. Ein Bericht über den Alltag mit Betroffenen.

Demenz: Acht Tipps für Angehörige
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Foto: Shutterstock/Ocskay Bence

Wer denn die fremde Frau sei, die ihr direkt gegenüber am Tisch sitzt und ihr gerade den Tee eingeschüttet hat, fragt Klara Lindemann (Name geändert). Sie habe sie noch nie gesehen. Die junge Frau ist ihre Enkelin Ina (29). Als die 92-Jährige das hört, senkt sie traurig ihren Kopf, weil sie sich schämt, ihre Enkelin, die sie seit ihrer Geburt kennt und liebt, nicht erkannt zu haben. "Das tut mir so leid. Ich hoffe, dir damit nicht wehgetan zu haben", sagt sie. "Oma, das macht doch nichts", erwidert die junge Frau. Etwa eine Stunde später stellt die Großmutter dieselbe Frage. Und dann noch einmal.

Es sind diese nur auf den ersten Blick harmlosen, für Außenstehende oft komischen Gespräche, die es Birgit Lindemann so schwer machen, ihre an Demenz erkrankte Mutter in den eigenen vier Wänden zu pflegen. Sie in ein Heim zu geben, so wie es viele andere tun, kommt für die 54-Jährige nicht infrage. "Sie ist meine Mutter. Und sie hat sich in ihrem Leben immer um mich gekümmert. Jetzt ist es meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern."

Schleichend kommt das Vergessen

In Deutschland erkranken täglich rund 800 Menschen an Demenz. Von den über 90-Jährigen ist jeder Dritte betroffen. Insgesamt leiden bundesweit mehr als 1,3 Millionen Menschen an dieser Krankheit. Tendenz stark steigend. Noch gibt es kein Heilmittel. Die Symptome können lediglich eine Zeit lang bekämpft werden. Für die Familienangehörigen ist es sehr zeitintensiv und belastend, die betroffene Person zu betreuen. Doch Demenzkranke benötigen genau das. Einen vertrauten Menschen in ihrer Umgebung, der ihnen das Gefühl vermittelt, verstanden und gebraucht zu werden. Ganz normal zu sein.

Bei Klara Lindemann brach die Krankheit vor etwa 13 Jahren aus. Wie in den meisten Fällen schleichend. Es begann beim Einkaufen. Plötzlich ließ sie den Einkaufszettel zu Hause liegen oder vergaß im Supermarkt, welche Lebensmittel sie überhaupt holen sollte. Anfangs, erinnert sich ihre Tochter, fiel das nicht auf. So etwas passiert eben. Doch die Aussetzer häuften sich. Nicht nur beim Einkauf. Sie begann damit, die Schmutzwäsche aus der Waschmaschine zu holen, sie zu bügeln und zu falten. Das Bügeleisen ließ sie an, wenn sie damit fertig war. "Spätestens da war uns allen in der Familie bewusst, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt", sagt Lindemann. Der Hausarzt stellte dann die Diagnose, von der alle in der Familie bis zuletzt gehofft hatten, dass er sie nicht stellen würde: Demenz. "Der Schock war groß", sagt sie.

Wer einen Demenzfall in der Familie hat und zu Hause pflegt, benötigt viel Rückhalt und Unterstützung — Birgit Lindemann bekommt sie von ihrem Ehemann und ihren beiden erwachsenen Kindern. Der gewohnte Tagesablauf muss umgestellt und den Bedürfnissen des Pflegefalls angepasst werden. Demenzkranke benötigen einen Rhythmus, immer wiederkehrende Rituale. Es beginnt mit dem Frühstück, das jeden Morgen zur gleichen Zeit stattfinden sollte. Ebenso das Mittagessen und das Abendbrot.

Es muss immer jemand da sein

Es muss eigentlich immer jemand da sein, der sich um die erkrankte Person kümmert und auf sie aufpasst. "Wenn wir sie allein zu Hause lassen, öffnet sie die Tür, wenn es schellt, und lässt dann wildfremde Menschen einfach rein", sagt die 54-Jährige. Deswegen nimmt sie ihre Mutter seit einiger Zeit mit, wenn sie schnell mal zum Bäcker fährt, um etwas einzukaufen. Ihre Mutter bleibt dann im Auto sitzen, weil sie schlecht gehen kann. Die Tochter muss dann keine Sorge haben, dass zu Hause etwas passiert. Es sei so ähnlich wie mit einem Kind, das man keine Sekunde aus den Augen verlieren dürfe. "Man muss immer auf sie aufpassen."

Lindemann berichtet auch von ihren Ängsten. Wird sie auch mich irgendwann vergessen? Eine Frage, die sie sich gelegentlich stellt. Auch wenn es ihre eigene Mutter ist, muss sie manchmal eine gewisse Distanz zu ihr aufbauen. Sie als Patientin sehen. Nicht als Mutter. "Man muss ihr — so schwer es auch fällt — auch mal deutlich die Grenzen aufzeigen, also lauter werden", sagt sie. Zuweilen scheint es schwierig, diese künstliche Barriere und Distanz zwischen Tochter und Mutter aufrechtzuerhalten, doch es war ebendiese Distanz, die die nötigen Einsichten für die Pflege hervorbrachten. "Man darf sich nie selbst bemitleiden. Das würde einen fertigmachen." Aber es gibt auch schöne Momente. Es sind diese wenigen, kurzen Augenblicke, wenn ihre Mutter klar bei Verstand ist. So etwa jeden Abend, wenn sie zu Bett gebracht wird. Dann sagt sie ihrer Tochter immer, wenn diese die Decke über sie legt: "Danke für alles, was du jeden Tag für mich tust."

(RP/felt)
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