Eine Frage des Stils "Bis zur Vergasung"?

Leserin Sigrid H. (Düsseldorf) fragt: "Soll man jemanden tadeln, wenn er die Formulierung ,bis zur Vergasung' wählt?"

Sprachkritiker, die die Wortwahl ihrer Mitmenschen mit Desinfektionsmitteln bekämpfen, tappen mitunter selbst ins Fettnäpfchen. So stammt die Formulierung "bis zur Vergasung", die diese Kritiker als verbalen Horror geißeln, nicht etwa - wie fälschlich geglaubt - aus den Gaskammern des "Dritten Reiches", sondern aus dem Ersten Weltkrieg. Damals wurde Giftgas zur öffentlichen Kriegswaffe - anders als in den Konzentrationslagern der Nazis, wo der Tod im Gas eine massenhafte, jedoch geheime Kommandosache war. Unsere Leserin fragt, ob sie Menschen, die vielleicht doch auch "bis zum Abwinken" oder "bis zum Überdruss" sagen könnten, mit dem erhobenen Zeigefinger kommen soll oder nicht. Gewiss ist, dass eine allzu rabiate Sprachhygiene den Sprechenden bei seiner entschuldbaren Seite trifft: der Unbedachtheit. Das Wort von der "Vergasung" ist unschön, es ist leichtfertig, es ist sogar peinlich, aber es ist eben kein Nazi-Jargon, weil die Nazis es offenbar nie gesagt haben. Ohnehin scheint beim Wörterbuch des Unmenschen immer Vorsicht angebracht. Das unangenehm klingende Verb "ausmerzen" riecht übel nach Rassepolitik (tatsächlich haben die Nazis das Wort gemocht und noch lieber angewendet) und fast nach "Entlausung"; doch wurde schon in der Schafzucht des 18. Jahrhundert "ausgemerzt" - im Monat März wurden unbrauchbare Schafe ausgesondert. Die scheinbar harmlose "Sonderbehandlung" ist hingegen ein heimtückischer Begriff, weil damit ausschließlich unter Nazis die systematische Ermordung von Minderheiten gemeint war. Es ist gut zu wissen, wie Sprache funktioniert, wem sie dient, was sie meint. Doch nicht alles, was in der braunen Zeit Verwendung fand, muss für alle Zeiten verbrannt sein. Deshalb scheint eine gewisse Gelassenheit förderlich. Doch wer mag, kann gern sagen: "Sie wissen, woher das Wort kommt, das Sie soeben benutzt haben?" So lässt sich erzeugen, was der Kritiker sich wünscht: ein Nachdenken.

Ihre Fragen? Bitte unter "Eine Frage des Stils" an kultur@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort