Die 100 besten Romane Platz 8: "Unterwerfung" von Michel Houellebecq

Düsseldorf · Dieser Zusammenprall von Wirklichkeit und literarischer Fiktion war gespenstisch - als ausgerechnet am Tag des islamistischen Attentats auf die Pariser "Charlie Hebdo"-Redaktion am 7. Januar sein Buch in Frankreich erschien: Michel Houellebecqs "Unterwerfung".

Wie ein futuristischer Begleitkommentar zur Bluttat wirkt bis heute der Roman, der vom Wahlsieg der gemäßigten Bruderschaft der Muslime in Frankreich 2022 erzählt. Der Ministerpräsident heißt Mohammed Ben Abbes, und sein Programm ist ein Bekenntnis: Jedes Kind bekommt Islamunterricht und jedes Mädchen nach der Grundschule ausschließlich Hauswirtschaftslehre; zudem werden an allen Schulen muslimische Speisevorschriften und Gebetsstunden eingeführt.

So weit, so klischeehaft. Doch der 59-jährige französische Autor mit dem Zeug zum intellektuellen Guru ist immer noch ein Schriftsteller, kein Agitator. Er denkt mit Worten und fasziniert mit Unerwartetem. Auch darum übt die neue Regierung keine totalitäre Schreckensherrschaft aus. Ihre Gegner sind nicht etwa andere Religionen, sondern die Gleichgültigen, denen Werte schlichtweg abhanden gekommen sind. Damit wird der Laizismus attackiert, nicht der Katholizismus.

Genau das macht aus diesem Roman einen Seismographen unserer Zeit. Houellebecq zeichnet den Islam gar nicht als Schreckgespenst; furchterregend ist eher der Zustand der westlichen Konsumgesellschaft. Die Geschichte der "Unterwerfung" ist in ihrer Unterströmung eine Geschichte des asozialen Zerfalls einer Zivilisation ohne Ideale und einer dekadenten Moderne, die von Lebensekel geschüttelt zu sein scheint.

Wie jeder wirkmächtige Schriftsteller analysiert Michel Houellebecq nicht. Er erzählt bloß die Geschichte, die er glaubt, erzählen zu müssen. Darum ist jeder Roman in sich wahr. Niemand kann ihn widerlegen. Die Wirklichkeit kann also kein Gradmesser für die Qualität eines Buches sein; in diesem Fall aber wird sie zum fürchterlichen Zeugen.

Diskutieren Sie unter dem Hashtag #schroeders100 bei Twitter mit dem Autor Lothar Schröder (@daszweitgesicht) und anderen Literaturfans: Welcher Roman gehört unbedingt in die Top100? Welcher wird Ihrer Meinung nach überschätzt?

(RP)
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