Essay Vorlesen ist ein Stück Familientherapie

Berlin · Eine Studie besagt: Etwa jedes dritte Kind bekommt nie oder nur sehr selten etwas vorgelesen.

Die schönsten Kinderbücher
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Es kann einer der magischsten Momente in der Beziehung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen sein: Wenn kurz vor dem Schlafengehen das Lieblingsbuch aufgeschlagen und eine Geschichte daraus vorgelesen wird, gehen Vorleser und Zuhörer eine besondere Verbindung ein. Abseits des hektischen Alltags entstehen Gemeinsamkeit, Konzentration und Ruhe. "Vorlesen stärkt den Zusammenhalt in der Familie", sagt deshalb Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Mainzer Stiftung Lesen. Doch eine neue Studie der Stiftung zeigt auch: Etwa jedes dritte Kind bekommt nie oder nur sehr selten etwas vorgelesen.

250 Väter und 250 Mütter haben die Leseforscher zu ihren Vorleseerfahrungen befragt. Diejenigen Eltern, die ihrem Nachwuchs regelmäßig Geschichten vortragen, benennen viele Vorteile. Ist ein Kind traurig oder bedrückt, lässt es sich meist durch eine Geschichte aufheitern. Oder es kann sich mit einer Figur im Buch identifizieren und von ihr lernen. "Vorlesen bereichert den Alltag von Familien. Es stößt etwas an in den Köpfen", so fasst Ehmig die Erfahrungen der Eltern zusammen.

Die Erkenntnis allein überrascht noch nicht. Vorangeganene Studien, die die Stiftung seit 2007 in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn und der Wochenzeitung "Die Zeit" erstellt, haben die Bedeutung der Lesekompetenz für die Entwicklung und die Bildungskarriere der Kinder längst festgestellt. Völlig unabhängig vom Bildungsniveau der Eltern wirkt sich Vorlesen positiv auf den späteren Bildungsweg der Kinder aus.

Anders als es die zunehmende Konkurrenz durch andere Medien vermuten ließe, gewinnt das Vorlesen in den Familien derzeit sogar an Bedeutung. Zwei Drittel der befragten Eltern halten es für einen wichtigen Teil der Kommunikation innerhalb der Familie. Bei Kindern zwischen zwei und acht Jahren führt Vorlesen zu weiteren Gespräche über Themen, die das Kind in seinem Alltag beschäftigen.

Wenn es einschneidende Ereignisse in seinem Leben gibt wie die Geburt eines Geschwisterkinds, Umzug, Trennung oder Einschulung, greifen viele Eltern sogar gezielt zu Geschichten, die das Erlebte thematisieren. "Das hilft den Eltern bei den Antworten und Erklärungen", betont Ehmig. Das Vorlesen erleichtert "den Umgang mit herausfordernden Situationen und Problemen, die sonst nur schwer anzusprechen sind."

Immerhin 40 Prozent der Eltern gaben an, Bücher gezielt einzusetzen, um ihren Kindern beim Verarbeiten zu helfen. Aber nicht nur die jungen Zuhörer profitieren von der besonderen Form der Zuwendung, die beim Vorlesen entsteht. Drei Viertel der Eltern genießen die konzentrierte Auszeit genauso wie ihre Kinder. "Beim Vorlesen wird uns oft erst bewusst, wie wichtig unsere Familie ist", sagt Ehmig.

Damit die Vorteile des Vorlesens voll zur Geltung kommen, muss es allerdings ein Ritual im Alltag sein. Die Expertin empfiehlt deshalb, möglichst täglich, mindestens aber mehrmals in der Woche gemeinsam mit dem Nachwuchs zum Buch zu greifen.

90 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern beim Zu-Bett-Gehen vor, mehr als die Hälfte greift auch in Wartesituationen, etwa beim Arzt, zum Buch. Auch bei Fahrten in Zug, Bus oder Auto lesen viele Mütter und Väter ihren Kindern vor. Schon bei erst zwei- bis dreijährigen Zuhörern können Erwachsene mit Kindern über das Lesen spielerisch in Aktion treten.

(RP)
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