Vergessener Cilento

Eigentlich ist es ein gemütlich schaukelnder Weg nach Pisciotta, es sei denn, die Elemente wollen uns lehren, Serpentinen zu fahren. Dann verschüttet ein Steinrutsch die Küstenstraße und zwingt die Besucher zu aberwitzigen Kurven übers Gebirge, über Stock und Stein, an atemberaubenden Steilhängen vorbei. Sind wir hier richtig? Oder im Niemandsland angekommen? Da aber taucht ein zerknittertes Bäuerlein am Wegesrand auf. Auf unsere bange Frage lacht es: "Pisciotta? Due chilometri!"

Pisciotta, das wir in der Tat nach zwei Kilometern erreichen, ist ein Dokument für die stehengebliebene Zeit. Es handelt sich um ein mittelalterlich versteinertes Bergdorf über der Küste, 150 Kilometer südlich von Neapel im Cilento, einem riesigen italienischen Nationalpark. In Pisciotta, dessen Häuschen teilweise wie Adlerhorste am Felsen kleben, leben 3000 Einwohner. Wer hier nicht fischt, handelt mit Oliven, betreibt ein Lädchen – oder wandert aus. Pisciotta ist sozusagen ein Familienbetrieb geblieben, der sich rund um die Uhr auf dem Dorfplatz versammelt; dort sitzen die Alten, spielen Karten und halten Schwätzchen, während die Jungs unermüdlich Fußball spielen und vermutlich für die Squadra Azzurra, die Nationalelf Italiens, trainieren.

Den Verkehr auf der einzigen Durchgangsstraße regelt ein verwitterter alter Polizist, der keine Dienstzeiten kennt. Neulich, zu Karfreitag, wurde die Straße allerdings zu einem einzigen Parkplatz, als sich eine endlose Prozession mit reifen Messdienern in weißem Linnen, mit einem eingesargten Holz-Jesus und einer riesigen Marienstatue, einer groß besetzten Blaskapelle (lauter lokale Kräfte) und sämtlichen "Pisciottani" durch die Gassen schlängelte. Dieser trutzig-ehrliche Katholizismus hätte Papst Benedetto XVI. die Tränen in die Augen getrieben. Selbstverständlich wurde um die Ostertage gekocht und gebraten, was die Herde hergaben. Vorher wurde die einzige Metzgerei des Dorfs leergekauft – mit einer Schlange bis auf die Straße. Apropos Reptilien: Wer sich am Wegesrand über dunkles schuppiges Ringelreihen erschreckt, hat es gewiss mit einer harmlosen Äskulapnatter zu tun.

Während sich Pisciotta stolz in die Lüfte erhebt (170 Meter überm Wasser), gibt Marina di Pisciotta als Filiale an der Küste, etliche Serpentinen tiefer, eine bescheidene Vorstellung. Gute Restaurants findet man nur auf dem Berg – vor allem die "Osteria Del Borgo", die einen gegrillten frischen Fisch anbietet, an dem Neptun sein Wohlgefallen hätte; nebenbei entkorkt der Chef einen Hauswein, dessen minimaler Preis in keinem Verhältnis zu seiner maximalen Mundung steht. Überhaupt hat das Bergdorf kleine Geheimnisse zu bieten – so das Hotel Marulivo, dessen edle Diskretion von einer Terrasse überkront wird, die einem das Meer hoheitlich zu Füßen legt. So aber auch den Elektrohändler Blasi, der den Mietern eines Ferienhäuschens, das in diesem Jahr noch keine Sonne gesehen hatte, einen "Termoventilatore", einen Heizlüfter, für zehn Euro verkaufte. Zehn Euro! Sagenhaft! So ist Pisciotta täglich.

Auch die Preise für Ferienhäuser (etwa über den Anbieter Cilento-Ferien) sind fair. Wer sich hier einmietet, kommt zur Ruhe (und sollte nur etwas gegen Mücken unternehmen). Die Welt vergisst einen, wie sie auch den Cilento beinahe vergessen hat. Trotzdem ist das hier nicht das Ende der Zivilisation – und wer über die Hügel des Apennin wandert, sieht und spürt das Tyrrhennische Meer, das azurblau vor der Küste döst. Gibt es Sandstrände? Ja, aber jeder Gast muss sie sich schon selbst erfragen, notfalls mit Händen, Füßen, Wörterbuch. Wird er fündig, staunt er: Warum liegt da noch keiner?

(RP)
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