Düsseldorf Frau Wanat und der Knabenchor

Düsseldorf · Unser Autor begegnete Justine Wanat in einem Café und sprach sie an. Ein zufälliges Interview und ein Glücksfall.Musik heißt leben, sagt die Chorleiterin. Und wer sollte das besser wissen als eine Frau, die immer schon singt?

 Justine Wanat war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, als unser Autor auf der Suche nach einem Menschen war, den er porträtieren kann. Im Café der Johanneskirche begegneten sie sich.

Justine Wanat war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, als unser Autor auf der Suche nach einem Menschen war, den er porträtieren kann. Im Café der Johanneskirche begegneten sie sich.

Foto: anne orthen

Das Glück studiert eine Partitur. "In Freezing Winter Night" von Robert Southwell aus dem 16. Jahrhundert, ein alter Schinken. Nach und nach malt das Glück Noten gelb an, wahrscheinlich nur die wichtigen. Das Glück trinkt Kaffee mit viel Milch, die Tasse mit dem hellbraunen Inhalt wartet neben dem dicken Stapel Noten. Das Glück ist ungefähr 1,70 Meter groß, im Sitzen sieht man das ja nicht so gut, 55 Jahre alt, hat rötliche Haare, ein unglaublich waches Lächeln und sehr viel Lust auf Musik. Das Glück heißt Justine Wanat, wohnt in Wittlaer, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

In der Zeitung landen für gewöhnlich prominente Menschen oder Menschen, die etwas besonders Interessantes getan oder erlebt haben. Manchmal fällt auch alles zusammen. Frau Wanat aber hat einfach im Café der Johanneskirche gesessen und von ihrem Leben erzählt. Weil wir sie zufällig gefragt haben und sie zufällig ja gesagt hat. "Ein Glücksfall", sagt Justine Wanat. Ob sie die Begegnung meint oder sich selbst, das sagt sie nicht. Aber sie hätte mit beidem sicher recht.

Man wird sich Frau Wanat als eine Frau vorstellen müssen, mit der man blind das Leben besprechen möchte. Mit der man Jazz, Beyoncé und Bach hören könnte. Mit der man aber auch tapfer die Demokratie verteidigen könnte. 1988 ist sie aus Polen nach Deutschland gekommen, erzählt sie. Frau Wanat öffnete ihre Augen und sah in der Bundesrepublik ein freies Land, zwar ein geteiltes, aber ein demokratisches Land. "Ich genoss die Demokratie", sagt Justine Wanat.

Sie war erstaunt, dass jedes Kind einfach Kind sein durfte. Und jedem werdenden Menschen der Respekt eines Menschen entgegengebracht wurde. "Das kannte ich nicht, und es war so schön." Heute - ein bisschen ist man überrascht, dass dieses Gespräch von Southwell über Bach zu Donald Trump führt - beschäftigt sie die Demokratie wieder intensiver. 29 Jahre nach ihrem Staunen fragt Justine Wanat: "Warum ist unsere Demokratie so schwach?" Und sie fordert jeden auf, persönlich etwas für ihre Wiedererstarkung zu tun. Justine Wanat bringt Menschen zum Singen. Und wer glaubt, dass dies nichts mit Demokratie zu tun hat, der hat den freiheitlichen Akt des gemeinschaftlichen Singens nicht begriffen. Und die Kraft, die hinter Musik stecken kann. Justine Wanat ist also Künstlerische Leiterin der Akademie für Chor und Musiktheater in Düsseldorf, erzählt sie. In Katowice, Polen, hat sie an der Musikhochschule studiert und seit 1998 leitet sie verschiedene Chorgruppen der städtischen Clara-Schumann-Musikschule.

Musik heißt Leben, sagt Justine Wanat. In ihrem Fall könnte man auch sagen: Leben heißt Musik. Schon als Kind hat sie angefangen, einfach zu singen, wollte Pianistin werden. Auf ihrem Weg nach Wittlaer hat sie ihre Pläne dann aber noch leicht verändert, wie es wohl jeder macht, der lebt. Der Musik aber ist sie immer treu geblieben, und sie denkt gar nicht daran, sie zu betrügen.

Was aber beschäftigt die Frau, die im Café einer Kirche Noten studiert? Abgesehen vom Kampf um die Demokratie, den wir wohl wieder werden ausfechten müssen? Es ist, auch das eine Überraschung, der Düsseldorfer Knabenchor, den es bekanntlich gar nicht gibt. Leipzig hat ihn, Dresden, aber Düsseldorf, die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt, nicht. Es ist ja ein alter Hut, dass man hier gerne alles hätte und noch ein bisschen mehr. Warum nicht also auch einen Knabenchor? "Es gibt keinen Leistungschor in der Stadt", beklagt Frau Wanat und ist wild entschlossen, das zu ändern. "Wir werden einen Knabenchor entwickeln", und es klingt nicht danach, als sei das mal eben so daher gesagt, weil da jemand gerade mitschreibt, was sie zu sagen hat.

Die Familie kommt aus Oberschlesien. "Dort durften wir kein Deutsch sprechen", erzählt Justine Wanat. Als sie 1988 erst nach Stuttgart an die Bach-Akademie ging und später nach Düsseldorf, war das für sie auch wieder ein Glücksfall. Sie lernte ihren Mann kennen, heiratete ihn, bekam Kinder und machte Musik. Düsseldorf ist heute, so sagt sie, nicht nur eine ganz tolle Stadt, sondern sogar eine zweite Heimat. Die Nachbarn ihrer Wohnung in Wittlaer beschweren sich nicht, wenn sie musiziert, die Kinder sind dort groß geworden, und der Rhein ist zum Spazieren nicht weit. "Ich fühle mich so wohl", sagt sie.

Zweimal die Woche, montags und donnerstags, sitzt Justine Wanat in dem Café der Johanneskirche und wartet auf ihre Chöre, die getaktet kommen, um zu singen. Sie sitzt dann dort, wie jetzt, mit ihrer Tasse hellbraunen Inhalts und studiert die Partituren. Sie malt die Noten an, aber nur die wichtigen. Es ist großartig, sagt sie. Oder eben Glück.

(her)
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