Interview Helmut Wallrafen Zu wenig Personal für Pflege-Aufgaben

Mönchengladbach · Der Geschäftsführer der Sozial-Holding Mönchengladbach spricht über das neue und enttäuschende Pflegegesetz, zu niedrige Gehälter für Mitarbeiter, die neuen Regeln bei den Pflegestufen und die Zukunft der Altenheime.

Herr Wallrafen, am Mittwoch sind Sie einer der Experten, die im Gesundheitsausschuss des Bundestages bei einer Anhörung ihre Meinung zum neuen Pflegegesetz sagen. Wie finden Sie es denn?

Helmut Wallrafen Ganz ehrlich? Ich bin erschüttert. Weil sich die wichtigsten Hoffnungen, die wir nach vielen Vorgesprächen berechtigterweise mit diesem Gesetz verbunden haben, nicht erfüllen.

Was hatten Sie sich erhofft?

Wallrafen Der Personalschlüssel ist und bleibt vollkommen unbefriedigend. Die Leistung der Pflegekräfte wird von den Angehörigen zwar wertgeschätzt, ihre Leistung wird aber vom System nicht angemessen bezahlt. 2200 Euro Grundgehalt, wenn man in den Beruf einsteigt, sind bei den physischen und psychischen Belastungen einfach zu wenig. Sicher gibt es in vielen Berufen Druck und Stress. Aber da sollte mal jede Berufsgruppe für sich selbst sprechen. Und ich kann für die Pflege sagen: Das geht so nicht. Weder der Personalschlüssel noch das Gehalt sind in Ordnung.

Aber es muss auch nach dem neuen Gesetz so weiter gehen.

Wallrafen Ja, und das ist in zweierlei Hinsicht enttäuschend. Erstens hatte sich der zuständige Staatssekretär Karl-Josef Laumann viel Zeit genommen, um an der Basis zu recherchieren. Was er in den Veranstaltungen von seinen Erfahrungen berichtet hat, deckt sich zu 99 Prozent mit meiner Einschätzung. Herr Laumann hat ja regelrecht die Säle gerockt, da gab es Jubel von allen Beteiligten. Wir alle hatten den Eindruck: Endlich hat es einer verstanden, endlich ändert sich etwas. In dem Entwurf steht aber nun: Bis 2020 soll geforscht werden, welcher Personalschlüssel angemessen ist. Da kann ich nur lachen. Das habe ich schon 1984 in meinem ersten Buch "Tagebuch aus dem Altenheim" geschrieben, und das weiß wirklich jeder, der sich nur etwas mit dem Thema auskennt: Es gibt deutlich zu wenig Personal für diese Aufgabe gemessen an den Erwartungen und inhaltlichen Vorgaben. Da muss ich nun wirklich nicht noch fünf Jahre forschen.

Wie werden sich die anderen Festlegungen in dem neuen Gesetz auf die Pflegebedürftigen, vor allem die bei uns in Mönchengladbach, auswirken?

Wallrafen Es wird künftig statt bisher drei nun fünf Pflegestufen geben. Dabei wird dem Umstand, dass es für die Pflege ein Unterschied ist, ob jemand körperlich oder geistig eingeschränkt ist, mehr Rechnung getragen als bisher. Bisher waren die Gutachter angehalten, vor allem den körperlichen Zustand einzuschätzen. Das wird einem Krankheitsbild wie der Demenz allerdings nicht ausreichend gerecht.

Kann das Nachteile für diejenigen bedeuten, die nach dem bisherigen System in einer Pflegestufe sind?

Wallrafen: Nein. Wer bis Ende 2016 begutachtet wird, wird auf keinen Fall schlechter gestellt als bisher. Die alten Pflegestufen sollen nach einem festen Schema umgerechnet werden, ohne dass eine neue Begutachtung nötig ist. Wurde nach dem alten System zusätzlich eine "eingeschränkte Alltagskompetenz" festgestellt, so klettert der Versicherte um zwei Stufen, also von Stufe II auf Grad IV.

Das bedeutet: An den Grundfesten des Systems wird nicht gerüttelt.

Wallrafen Genau. Es gelten weiter die Grundsätze: Prävention vor Pflege und ambulant vor stationär. Das ist gut so. Auch, dass es nun andere Möglichkeiten gibt, Demenz-Patienten in der Beurteilung gerecht zu werden, ist richtig. Eines darf man allerdings nicht vergessen: Letztlich wird der Geldtopf nicht größer. Wenn man also an einer Stelle etwas mehr berücksichtigt, muss man an der anderen Stelle etwas wegnehmen.

Brauchen Sie eigentlich langsam ein neues Büro?

Wallrafen Wieso?

Die ganzen Auszeichnungen, die die Sozial-Holding zuletzt bekommen hat, passen doch langsam nicht mehr in einen Raum.

Wallrafen (lacht): Keine Sorge, die horte ich ja nicht auf meinem Schreibtisch. Natürlich freuen wir uns, dass das, was wir gerade im Bereich des Gesundheitsmanagements über die Jahre entwickelt haben, auch von unabhängigen Instituten anerkannt wird. Aber wichtiger als Preise ist das, was unsere Mitarbeiter sagen. Denn wegen denen tun wir das ja.

Und was sagen sie?

Wallrafen Sie freuen sich darüber, dass sie von uns neben kostenlosem Wasser, einen Apfel und Massagen ein systematisches Gesundheitsmanagement bekommen. Sie verstehen das genauso, wie es gemeint ist: als Anerkennung ihrer starken Leistung.

Wie vernetzt sind all jene, die Pflege in der Region betreiben?

Wallrafen Die großen Anbieter kennen sich gut und sehen sich auch regelmäßig. Aber ich schätze, dass es mindestens 100 Unternehmen in der Region gibt, die in der Pflegebranche arbeiten. Da brauchen wir mehr Austausch, um voneinander zu lernen und unsere guten Ideen auszutauschen. Darum hoffe ich, dass wir zu einem "Arbeitskreis Pflege" kommen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass der bei der Industrie- und Handelskammer angesiedelt ist.

Wie muss sich die Sozialholding perspektivisch entwickeln, um den Anforderungen gerecht werden zu können?

Wallrafen Zunächst einmal muss die Sozial-Holding auch weiterhin dem Vertrauen der Kunden und der Beschäftigten gerecht werden. Dann haben wir alle Weichen für den demografischen Wandel gestellt. Letztlich zeigen unsere Ausbildungszahlen (60 Auszubildende) und die sehr gute und enge Zusammenarbeit mit der Hochschule Niederrhein, dass wir schon mitten im Generationenwechsel unseres Unternehmens sind, und das ist gut so.

Wie werden Altenheime in 10, wie in 20 Jahren aussehen?

Wallrafen Wahrscheinlich nicht wesentlich anders als heute. Noch ein wenig moderner, noch ein wenig mehr Technik. Die verständlichen Wünsche "nicht im Altenheim leben zu wollen", werden aber auch in 20 Jahren von der Realität eingeholt werden, dass Menschen mit einem Durchschnittsalter von 86 Jahren, Multimorbidität und Demenz vielfach nicht zu Hause von Partnern und/oder Angehörigen gepflegt werden können. Je eher wir das begreifen und zulassen und je mehr sich die Heime in die Quartiere hinein öffnen, desto mehr wird die Akzeptanz und die Wertschätzung für Heimträger und Personal steigen.

Erfahren die Menschen, die selbst daheim Angehörige pflegen, schon ausreichend Unterstützung für ihre Leistungen?

Wallrafen Formal ja. Diese Welt scheint aber nicht mehr zu begreifen, dass Geschwindigkeit und Technik nicht alles ist. Gerade so ein intimes Thema wie Pflegebedürftigkeit erfordert Zeit, Vertrauen und persönliche Gespräche. Das dies funktioniert, hat unser dreijähriges Modellprojekt "Netzwerk pflegend Beschäftigte" bewiesen. Nach dem Modell machen fast 2/3 der Modellpartner weiter und nutzen unseren Service der Beratung und falls notwendig auch den der Pflegevermittlung in seinem jeweiligen engsten Lebensumfeld.

RALF JÜNGERMANN FÜHRTE DAS GESPRÄCH

(RP)
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