100 Jahre Kult um Ozeanriese Titanic - Schiff und Legende

Düsseldorf · Als sie vor 100 Jahren Southampton in England zu ihrer ersten und letzten Fahrt verließ, war die "Titanic" ein Atlantikdampfer unter vielen. Erst durch ihren Untergang wurde sie unsterblich - und zu dem Schiff schlechthin. Unsere "Titanic" von 2012 ist nicht mehr das Schiff von 1912, sondern ein globales Gefühl.

Der 100. Todestag der "Titanic"
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Es ist ein kalter Aprilabend, 20 Minuten vor Mitternacht, als ein leichtes Zittern durch den riesigen Schiffskörper geht. Die Maschinen stoppen. Innerhalb weniger Minuten neigt sich das Schiff nach vorn und nach Steuerbord. Gut 550 Kilometer südöstlich von Neufundland, mitten im Nordatlantik, hat die "Titanic", auf dem Weg von Southampton nach New York, einen Eisberg gestreift. Die Löcher im Rumpf des größten Schiffs der Welt sind klein, aber gefährlich verteilt.

Dass es nicht zum Äußersten kommt, ist glücklichen Umständen zu verdanken: Nur weil die Lecks weit genug vorne liegen und weil nur drei Abteilungen überflutet werden, hat das als "praktisch unsinkbar" beworbene Schiff überhaupt eine Chance. Sonst hätte es Hunderte Tote geben können. So aber hält sich die "Titanic" über Wasser, bis Hilfe eintrifft. Die "Carpathia" und die "California" dampfen heran und bringen die Passagiere sicher nach New York. Die "Titanic" selbst wird abgeschleppt und in den USA wieder flottgemacht. Fast ein Vierteljahrhundert bedient sie ohne Beanstandungen die Nordatlantik-Linie, bevor sie 1936 verschrottet wird.

So war es nicht.

Die "Titanic" ist untergegangen, 1500 Menschen sind gestorben, damals, vor 100 Jahren. Was aber, wenn die Kollision mit dem Eisberg glimpflich ausgegangen wäre - etwa weil der Ausguck ihn ein paar Minuten früher bemerkt hätte? Den Namen "Titanic" würden heute nur noch Seefahrt-Enthusiasten und Technikbegeisterte kennen. Nie hätten sich Legenden um das Schiff gerankt, ebenso wenig wie um die "Aquitania", die "France" oder die "Deutschland", Ozeanriesen des frühen 20. Jahrhunderts allesamt. Die "Titanic" ist, so paradox es klingt, erst durch ihren Untergang unsterblich geworden.

Titanic wird erst durch den Untergang unsterblich

Und nicht einmal das war zwangsläufig. Die unerhörte Erzählung von der "Titanic" ist eine, deren einzelne Teile sich immer erst im Nachhinein, manchmal erst nach Jahrzehnten zu einem sinnvollen Ganzen fügen. Denn das Schiff war 1912, als es zum ersten (und letzten) Mal in See stach, ein Atlantikdampfer unter vielen, wenn auch einer der luxuriösesten und der größte.

Dieser Ehrentitel wäre ihm allerdings nicht lange geblieben: Ende Mai 1912 lief in Hamburg die um ein Achtel größere "Imperator" vom Stapel. Außerdem hatte schon vor der "Titanic" ihr Schwesterschiff, die 1911 in Dienst gestellte, fast ebenso große und fast ebenso schicke "Olympic", das Staunen der Welt erregt. Dass aus einem Schiff, eben der "Titanic", das Schiff geworden ist, sozusagen der Inbegriff dessen, was ein Schiff ausmacht: Eleganz, Naturbeherrschung, Verwundbarkeit und immer auch ein Schuss Tollkühnheit - diese gigantische Mythisierung vollzog sich in fünf Schüben.

Da ist, erstens, das Erschrecken. Die unerhörte Zahl von 1500 Toten schockiert die Öffentlichkeit ebenso wie die bald bekannte Tatsache, dass lächerliche 1,2 Quadratmeter Leckfläche, verteilt auf sechs Stellen, gereicht hatten, um ein 270 Meter langes Schiff binnen zweieinhalb Stunden auf den Meeresgrund zu schicken. Schon fünf Tage nach der Katastrophe erscheint in London die Zeitschrift "The Sphere" mit großen Zeichnungen (Fotos gibt es nicht) des Unglücks.

Es kursieren herzzerreißende Geschichten über die Ritterlichkeit der männlichen Passagiere, etwa über den Milliarden-Erben John Jacob Astor, der erst eine Schwangere und dann ein Auswandererkind zum Rettungsboot geleitet haben soll, bevor er sich mit der Zigarette im Mundwinkel zum Sterben rüstete. Auf der Ausstellung des Berliner Künstlerbunds Secession zeigt Max Beckmann sein Werk "Der Untergang der Titanic". Der Däne Carl Nielsen komponiert eine "Paraphrase über "Nearer, My God, to Thee", den Choral, den angeblich die Bordkapelle zuletzt spielte. Die "Titanic" - ein Heldenepos.

Titanic - Symbol der Überheblichkeit

Da ist, zweitens, die bittere Rückschau. Wer 1922 zehn Jahre zurückblickt, der sieht eine andere Welt - ein von sich selbst berauschtes, technikbegeistertes, grundoptimistisches Zeitalter, in dem Fortschritt ein Naturgesetz zu sein schien. Dann kam der Krieg, der bald der große hieß, weil er sich schnell nicht als ritterlicher Ausflug, sondern als grauenhafte, endlose technische Schlächterei erwies, als Weltkrieg, der alle Gewissheiten der Vorkriegszeit wegfegte. Die "Titanic" war zu sehr ein Kind ihrer Epoche, als dass sie nicht als Symbol für das alte Europa gelten konnte, das in kürzester Zeit untergegangen war. Die "Titanic" - Symbol der Überheblichkeit.

Da ist, drittens, das neu erwachende Interesse nach dem Zweiten Weltkrieg. 1955 erscheint Walter Lords Buch "A Night to Remember", das sich erstmals ernsthaft mit den Berichten der Augenzeugen auseinandersetzt und die Katastrophe minutiös rekonstruiert. Der wirkliche Hauptdarsteller ist kein Mensch, sondern das Schiff selbst. "Dieses kraftvolle Buch übersetzt die Tragödie der ,Titanic? in menschliche Begriffe. Die Geschichte ist wahrhaft außergewöhnlich, weil sie wirklich passiert ist", lobt die Titanic Historical Society. Die "Titanic" - ein Mosaik aus kleinen Dramen.

Die Archäologie holt es ans Licht

Da ist, viertens, die Entdeckung des Wracks der "Titanic" am 1. September 1985 durch den Meeresgeologen Robert Ballard. Zwar erweist sich der Plan, das Schiff aus 3800 Meter Tiefe wieder an die Oberfläche zu holen, schnell als Hirngespinst. Weil aber nur wirklich ist, was man sehen kann, reißt der Tauchgang (zu einer Zeit, da die Augenzeugen-Generation ausstirbt) die schon fast in den Tiefen der Mythologie versunkene "Titanic" zurück ins mediale Tageslicht. Die "Titanic" - ein archäologisches Relikt.

Und da ist, fünftens, die endgültige Kommerzialisierung der "Titanic" durch James Camerons gleichnamigen Film von 1997 - so größenwahnsinnig wie das Schiff selbst, eine unverschämte Schnulze, aber auch einer der besten Katastrophenfilme überhaupt. In den Ozeanen von Tränen, die in den Kinosälen der Welt um das Schicksal von Jack und Rose geweint werden, könnte die echte "Titanic" locker noch einmal untergehen. Die "Titanic" - ein globaler Mythos.

Die "Titanic" von 2012, unsere "Titanic", ist nicht das Schiff von 1912, sondern eine Elegie auf das, was nicht mehr ist, und ein Menetekel für alles, was selbstverständlich scheint. Unsere "Titanic" ist ein bittersüßes Gefühl. Diese "Titanic" ist tatsächlich unsinkbar.

(RP/felt/pst)
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