Massaker auf der Ferieninsel Wachsende Kritik am Polizeieinsatz auf Utoya

Oslo · Nach dem Anschlag auf das Jugendlager auf Utoya mit mindestens 85 Toten verdichten sich die Anzeichen für schwere Pannen beim Ablauf des Rettungseinsatzes. Unter anderem erwies sich ein Polizeiboot beim Übersetzen auf die Insel als ungeeignet. Die Anti-Terror-Einheit "Delta" rückte mit dem Auto aus Oslo an. Anwohner und Medien werfen den Behörden zu zögerliches Eingreifen vor.

Anderthalb Stunden lang konnte der Todesschütze auf der Ferieninsel Utoya sein tödliches Werk verrichten, zog ungehindert Zelt zu Zelt und richtete systematisch mindestens 85 Jugendliche hin. Der Täter agierte eiskalt und war entschlossen zu töten. Er soll je zweimal auf seine Opfer geschossen haben. Auch auf Flüchtende zielte er. Zudem benutzte er Dum-Dum-Geschosse, die im Inneren des Körpers explodieren. Ärzte reagierten entsetzt, als sie am Sonntag die Leichen der jugendlichen Opfer untersuchten.

90 Minuten lang herrschte auf dem Ferienparadis Utoya die Hölle. Nach dem ersten Notruf, den die panischen Jugendlichen absetzten, dauerte es nach dem jetzigen Erkenntnisstand 75 Minuten, bis die Kräfte des Sondereinsatzkommandos dem Täter Einhalt gebieten. Dabei liegt die Insel nur knapp 45 Kilometer von Oslo entfernt. Die Frage, warum die Polizei so lange brauchte, um Anders Breivik festzunehmen, wird die Öffentlichkeit in Norwegen in den kommenden Tagen umtreiben. Offenkundig war es ein Mix aus tragischen Missverständnissen, schlechter Ausrüstung und menschlichem Versagen, der dazu führte, dass der Täter weitaus länger als nötig morden ließ.

Eine Übersicht der Ereignisse vom Freitag aus der Sicht der Überlebenden:

Gegen 15.30 Uhr: Die etwa 600 Jugendlichen auf Utöya hören am dritten Tag ihres Feriencamps erste Nachrichten von dem Anschlag in der etwa 30 Kilometer entfernten Hauptstadt Oslo.

Gegen 16.30 Uhr: Die Jugendlichen empfangen auf ihren Smartphones Bilder des Anschlags in Oslo. Das Ausmaß der Katastrophe wird ihnen bewusst, viele versammeln sich in einem Gebäude und diskutieren darüber. "Wir trösteten uns damit, dass wir auf unserer Insel wenigstens in Sicherheit seien", schreibt eine Camp-Teilnehmerin am nächsten Tag in ihrem Blog.

Gegen 17 Uhr: Ein Mann in Polizeiuniform erreicht mit einem kleinen Boot die Insel. Er trägt sichtbar zwei Waffen, was in Norwegen ungewöhnlich ist. Zunächst erklärt er, er sei zum Schutze der Jugendlichen gekommen, dann beginnt er zu schießen.

17.10 Uhr: Jugendliche, die sich in der Mitte der Insel versammelt haben, hören aus Richtung des Ufers Schüsse und Schreie. Zunächst vermuten sie, es handle sich um explodierende Ballons. Als ihnen klar wird, dass geschossen, wird, bricht Chaos aus. Mehrere Jugendliche rufen eine Notrufnummer an. Dort wird ihnen jedoch erklärte, sie sollten die Leitung nicht blockieren, falls ihr Anruf nicht mit dem Anschlag in Oslo zu tun habe.

17.15 Uhr: Laut Augenzeugen erreicht der Täter das Gelände, auf dem die Zelte stehen, geht diese systematisch ab und schießt aus kurzer Distanz auf jeden, den er dort vorfindet.

17.20 Uhr: Eine Gruppe versteckt sich in einer dunklen Ecke in einem der wenigen Gebäude auf der Insel.

17.25 Uhr: Als die Schüsse näher kommen, fliehen die Jugendlichen durch ein Fenster. Einige von ihnen schreiben Textnachrichten an ihre Eltern.

17.27 Uhr wird von der norwegischen Polizei offiziell als Zeitpunkt des ersten Notrufs angegeben.

17.30 Uhr: Die Jugendlichen fliehen in Richtung der Ufer, einige springen ins 15 Grad kalte Wasser, um sich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Der Täter schießt auf alles, was sich bewegt. Ein Mädchen berichtet, wie sie auf dem Körper einer toten Kameradin liegt und dabei versucht, sich möglichst still zu verhalten.

17.38 Uhr: Eine Sondereinheit der Polizei bricht von Oslo nach Utoya auf. Die Einsatzleitung entscheidet, über Land zu fahren, da ein Hubschrauber angeblich nicht unmittelbar einsatzbereit ist. Oslos amtierender Polizeichef Sveinung Sponheim wird später sagen: "Im Auto ging es schneller, ein Hubschrauberflug hätte zu lange gedauert." Der einzige zur Verfügung stehende Helikopter parkte auf dem rund 50 Kilometer südlich von Oslo gelegenen Flughafen Rygge. In der norwegischen Polizei wird seit langem kritisch angemerkt, dass es der "Delta"-Einheit an Transportmöglichkeiten mangelt.

17.45 Uhr: Der Besitzer eines gegenüber der Insel gelegenen Campingplatzes hört eigenen Angaben zufolge seit mehr als einer halben Stunde Schüsse. Doch erst jetzt wird ihm klar, dass sich auf der Insel etwas Schreckliches abspielen muss. Erste Überlebende erreichen schwimmend das etwa 800 Meter von Utoya entfernte Ufer. Sie berichten, dass andere noch im Wasser angeschossen wurden und vermutlich ertrinken würden. Der Besitzer des Campingplatzes und einige Urlauber, unter ihnen der Deutsche Marcel Gleffe, fahren mit mehreren kleinen Booten in Richtung der Insel, um Überlebende zu retten.

17.52 Uhr: Erste Polizisten erreichen das Gebiet. Aber sie haben kein eigenes Boot und warten zunächst das Eintreffen des Sondereinsatzkommandos ab. Bislang liegen keine Anzeichen dafür vor, dass die Polizisten zeitgleich versuchten, Boote für sich selbst zu organisieren, um schnell eingreifen zu können. Bis die Anti-Terroreinheit eintrifft, vergehen kostbare Minuten.

Polizeikreisen zufolge wird später auch in der Polizei heftig darüber diskutiert, ob die Ortskräfte nicht früher hätten eingreifen müssen.

18 Uhr: Vier Jugendliche, die offenbar noch nicht wissen, dass der Polizist auf der Insel in Wahrheit keiner ist, rennen ihm Schutz suchend entgegen. Alle vier werden erschossen. Andere sehen dies aus ihren Verstecken, ohne eingreifen zu können.

18.09 Uhr: Die "Delta" genannte Anti-Terror-Einheit der Polizei aus Oslo erreicht nach 31-minütiger Fahrt das Gebiet gegenüber der Insel Utoya. Bei ihrem Eintreffen greift die Spezialeinheit auf Boote von Freizeitkapitänen zurück, um nach Utoya übersetzen zu können, sagt Einsatzleitzer Erik Berga später.

Dabei greift das Kommando offenbar zunächst auf ein zu kleines Boot zurück. Ein im benachbarten Hönefoss angefordertes Polizeischiff habe sich für den Transport der Beamten als ungeeignet erwiesen, teilte die Polizei am Sonntag mit. "Mit so vielen Menschen und Ausrüstung an Bord lief das Boot voll Wasser, und der Motor setzte aus", beschreibt Einsatzleiter Erik Berga die Polizeipanne vom Freitag.

18.25 Uhr: Die Polizei erreicht die Insel. Zunächst weiß sie nicht, wie viele Attentäter sich dort befinden. Viele der Jugendlichen bleiben aus Angst zunächst weiter in ihren Verstecken.

18.27/18.35 Uhr: Nach wenigen Minuten wird der 32-Jährige Täter gestellt - laut Polizeiprotokoll um 18.27 Uhr, früheren Angaben zufolge gegen 18.35 Uhr. Der Mann ergibt sich und wird festgenommen. Die kleinen Boote, die zur Rettung der Jugendlichen losgefahren waren, sind teilweise zu voll, um weitere Menschen aufzunehmen.

19 Uhr: Noch immer werden Überlebende aus dem Wasser gerettet. Auf der Insel wagen es einige der Jugendlichen noch immer nicht, aus ihren Verstecken hervorzukommen. "Ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen konnte", sagt eine der Überlebenden. "Ich wusste nicht, wem ich überhaupt noch trauen konnte."

Reaktionen von Anwohnern

Eine Anwohnerin, die am Freitag mit ihrem Boot fliehende Jugendliche aus dem See gerettet hatte, warf der Polizei am Sonntag ein zu zögerliches und chaotisches Eingreifen vor. "Es waren vielleicht 20 Boote (die an der Rettung beteiligt waren), wir sind nahe an die Insel und um sie herumgefahren, viel näher als Polizei oder Rettungsdienste", sagte die 48-Jährige der Nachrichtenagentur AFP. Die Besatzung eines Polizeibootes habe sie zudem aufgefordert, sich der Insel nicht zu nähern.

Ein Polizeisprecher sagte auf die Frage, ob die Polizei zu zögerlich reagiert habe, er habe darüber keine Informationen. Es habe allerdings noch keine Zeit dafür gegeben zu überprüfen, ob beim Polizeieinsatz etwas falsch gelaufen sei oder hätte besser gemacht werden können. "Ich bin sicher, die Polizeiaktion wird noch analysiert werden", sagte der Polizeisprecher.

Sie könne Kritiker verstehen, die den Sicherheitskräften ein zu langes Zögern vorwürfen, erklärte die Polizeichefin von Hönefoss, Sissel Hammer später. "Ich bitte um Verständnis, dass es seine Zeit braucht, um eine Spezialeinheit in Marsch zu setzen", sagte Hammer. "Das Personal muss alarmiert werden, es muss Schutzkleidung anlegen, sich bewaffnen und sich dann zum Tatort aufmachen."

Rätsel um einen Polizisten

Rätselhaft bleibt außerdem der Verbleib eines Polizisten, der zum Dienst auf der Insel eingeteilt gewesen sein soll. Polizeichef Sveinung Sponheim sagte am Sonntag bei einer Pressekonferenz, es sei unklar, wo der Beamte sei.

Fazit: Mehrfach kam es bei dem Polizeieinsatz zu folgenschweren Verzögerungen. Selbst wenn man den ersten offiziell von der Polizei entgegengenommenen Notruf um 17.27 Uhr zum Maßstab nimmt, konnte der Täter geschlagene 60 Minuten ungehindert Menschen töten.

Die ersten Polizeieinheiten benötigten 25 Minuten, um das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Woher die Polizisten kamen, ist bislang unklar. Der nächstgelegene größere Ort, Hönefoss, liegt 21 Kilometer entfernt.

Die ersten Polizeieinheiten entschieden sich, auf das mit dem Auto heraneilende Sondereinsatzkommando aus dem 45 Kilometer entfernten Oslo zu warten. Abermals verstreichen wertvolle 17 Minuten.

Die Polizeieinheit aus Oslo benötigte für die 45 Kilometer lange Anfahrt zum Tatort 31 Minuten. Hätte ein Helikopter bereitgestanden, wäre die Strecke sicherlich schneller zurückzulegen gewesen. Die schnellsten Modelle legen in einer Stunde 350 Kilometer pro Stunde zurück. Die Strecke bis zur Insel hätte damit in acht Minuten Wegzeit zurückgelegt werden können.

Ein schnelleres Einschreiten der Polizei hätte vermutlich zahlreiche Menschenleben retten können. Der 32-Jährige Rechtsextremist ließ sich nach offizieller Darstellung zwei Minuten nach Ankunft der Elitepolizisten widerstandslos festnehmen.

(RTR/dapd/rpo)
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