Eine Stunde Ex-Musikfernsehen Nicht dein Ernst, MTV

Düsseldorf · Jahrelang war MTV nur im Pay-TV zu empfangen – nun gibt es einen kostenlosen Live-Stream. Was ist vom einstigen Flaggschiff des Musikfernsehens geblieben? Eine Stunde zwischen Matratzenwerbung, fälschlicherweise geouteten Lesben und Enrique Iglesias im ÖPNV.

Makellose Menschen - in der MTV-Serie "Faking It" geben Schauspieler vor, schauspielern zu können.

Makellose Menschen - in der MTV-Serie "Faking It" geben Schauspieler vor, schauspielern zu können.

Foto: Screenshot MTV / Faking It

Jahrelang war MTV nur im Pay-TV zu empfangen — nun gibt es einen kostenlosen Live-Stream. Was ist vom einstigen Flaggschiff des Musikfernsehens geblieben? Eine Stunde zwischen Matratzenwerbung, fälschlicherweise geouteten Lesben und Enrique Iglesias im ÖPNV.

Es hat ja überhaupt keinen Sinn, drumherum zu reden. Das Ausmaß der Katastrophe zu verschweigen, es in Nebensätzen zu verstecken oder im Unterton mitschwingen zu lassen. Eine unvollständige Liste von Tätigkeiten, die erträglicher sind, als eine Stunde MTV zu schauen: mit dem Kopf voran in die Badewanne springen / das Regenwasser trinken, das sich in einem nicht geleerten Aschenbecher gesammelt hat / mit einem Tretboot auf dem Rhein von der Mündung bis zur Quelle fahren / mit einer Zahnbürste nach Altweiber die Düsseldorfer Altstadt fegen.

MTV ist in Popkulturjahren uralt, im August 1981 ging der Sender an den Start mit der revolutionären Idee: Wir spielen Musikvideos und schauen, was passiert. Spätestens, seitdem sich die Menschheit Musikvideos bevorzugt im Internet ansieht, geht es bergab. Seit 2011 ist MTV nur noch im Pay-TV zu empfangen, läuft also unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Weil MTV Germany in diesen Tagen aber 20 Jahre alt wird, zerrten die Verantwortlichen den Sender wieder über die Paywall. Seit einigen Tagen lässt er sich kostenlos im Internet streamen.

Ich wage einen einstündigen Blick an einem Wochenvormittag. Was ist noch geblieben vom MTV meiner Jugend, als Christian Ulmen dort eine anarchistische Show moderierte und ich die härtesten Rockvideos auf VHS mitschnitt?

Startup-Unternehmen statt Klingeltöne in der Werbung

Als erstes bekomme ich das Video einer mir unbekannten Band namens Welshly Arms zu sehen. "Legendary" ist eine egale Poprocknummer, die den Kinofilm "Power Rangers" unterlegt — weshalb das Video fantasielos aus Filmschnipseln und kurzen Szenen der Band auf einer Bühne zusammengesetzt wurde. Das mit den Power Rangers weiß ich nicht, das muss ich nachsehen. Zu meiner Zeit waren die noch eine billig produzierte Serie im Samstagsfrühprogramm.

Von Lost Frequencies habe ich immerhin schon mal gehört, ein belgischer DJ, der Haddaways "What Is Love" für den Club verwurstet und damit offenbar einen Hit zu verantworten hat. Das Video wirft mich um in all seiner Offensichtlichkeit. Ein Basketballspieler hat sich verletzt, auf Krücken steht er auf dem Feld, dann schuftet er für sein Comeback, er tut es auch für seine kleine Tochter, mit der er wieder anfängt Basketball zu spielen, und dann schaut er sich alte Filme seiner Kindheit auf einem Super-8-Projektor an, ein Gerät, das schon in den 90ern nur noch im Bio-Unterricht zum Einsatz kam. Klar, dass er es zum Comeback bringt.

Weil ich unbedingt wissen möchte, welches Video als nächstes zu sehen sein wird, bleibe ich auch in der Werbung dran. Früher war das der Platz für Neuheiten des Klingeltonmarktes, heute reihen sich dort ausschließlich Startup-Unternehmen aneinander. Wimdu.de ("Ferienappartement, bis zu 70 Prozent günstiger"), wirkaufendeinauto.de ("Genauso habe ich es mir vorgestellt"), Fotos unter Acrylglas in UltraHD, UltraHD!, Matratzenkaufen ganz ganz einfach.

MTV dreht erst richtig auf, wenn die Musik endet

Das waren die MTV Europe Music Awards 2016
11 Bilder

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Foto: rtr, YH

Fast schon freue ich mich auf das nächste Musikvideo — aber nur, bis es läuft. Ariana Grande und John Legend singen den Titelsong zu "The Beauty And The Beast", sie im roten Ballkleid, er am Klavier, makellos ist alles, die Haut, die Möbel, der Fußboden, Emma Watson sowieso und sogar das Biest. Moment mal, trägt das Biest einen "man bun"? Danach springt Enrique Iglesias singend durch einen leeren Bus, nicht mehr jung (fast 42), aber so jung aussehend wie in meiner Jugend. Und Ed Sheeran macht einen auf harten Boxer im Kapuzenpulli, der eine Frau kennenlernt, als diese ihm die Tür des Umkleidespindes vor die Nase knallt.

Im Anschluss teilen sie sich eine Portion Hähnchenteile mit Pommes, sie werden ein Paar, sie will dann aber plötzlich nicht mehr, er trainiert noch härter, hebt Treckerreifen und steht dann plötzlich einem Sumoringer gegenüber, steigt in seinen Sumofatsuit und hat doch keine Chance. Zum Glück kehrt — ausgerechnet in diesem Moment — seine Freundin zurück. Das Video endet, als sie zum Sprung gegen den Sumokämpfer ansetzt. Nein, ich habe mir das alles nicht ausgedacht.

30 Minuten habe ich überstanden.

Doch MTV dreht erst richtig auf, wenn die Musik endet. Denn eigentlich ist MTV kein Musiksender mehr. Der Zusatz "Music Television" verschwand 2011 aus dem Logo, was mehr als angemessen ist. Musik läuft auf MTV vor allem, wenn garantiert niemand schaut. Kaum mehr als acht Stunden täglich, nachts ab halb drei, und mittags ist schon wieder Schluss. Danach ist das zu sehen, was noch jeden Sender entstellt hat: billig produzierte Serien und Reality-TV-Formate.

Von "Teen Mom 2" bis "Ex On The Beach"

In "Disaster Date" dürfen wir dabei zusehen, wie sich jemand für eine schlechte Verkuppelung mit einem miesen Date rächt. Der Urheber der miesen Verkuppelung trifft bei seinem Rendezvous auf einen Improvisationsschauspieler, weiß aber nicht, dass es sich um einen Schauspieler handelt. Das Drama nimmt seinen Lauf.

"Teen Mom 2" begleitet vier Mädchen bei ihrem Versuch, Mutter- und Kindsein unter einen Hut zu bekommen, bei "Ex On The Beach" werden acht "verdammt heiße Singles" (O-Ton der MTV-Webseite) auf einer Insel ausgesetzt. Der Haken: Ihre Ex-Partner kommen auch mit. Für "Spring Break With Grandad" schickt MTV — man ahnt es — einen Haufen Rentner zum Spring Break.

Ich komme an diesem Tag in den Genuss von "Faking It", was ein passender Titel fürs gesamte Programm wäre. "Faking It" ist eine Teenager-Soap, deren Rahmenhandlung darin besteht, dass zwei beste Freundinnen fälschlicherweise als Lesben geoutet werden und deshalb über Nacht zu Berühmtheiten ihrer Schule werden.

Wer soll die Zielgruppe sein?

Für mich allerdings verwirren sich die einzelnen Handlungsstränge zu einem Wollknäuel des Wahnsinns. Astrein ausschauende junge Schauspieldarsteller sind hetero, lesbisch, schwul, waren aber früher ein Mädchen, weshalb der Freund nicht weiß, ob er dann nicht eigentlich doch hetero ist, wenn er mit ihm was anfängt.

Keine Szene dauert länger als eine Minute, das Bild ist verwackelt wie auf einem Handyvideo und diese jungen, makellosen Menschen sagen Sätze wie "Ich hab dich lieb und ich will, dass du glücklich bist." / "Ich will dich nie mehr wiedersehen." / "Mom, Ron verkauft Teilzeitwohnrechte." Kaum vorstellbar, dass es nur an der deutschen Synchronisation liegt.

Zwischendurch wieder Werbung für Ferienappartements, bis zu 70 Prozent günstiger, Hammerfotos unter Acrylglas, noch ein Anbieter wahnsinnig guter Internetmatratzen, Deutschlands größter Online-Secondhandshop. Und dann sagt eine aus "Faking It": "Sabrina, du bist jetzt also lesbisch?" Klar, ich bin nicht die Zielgruppe, aber wer soll die Zielgruppe sein? Jugendliche mit der Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen?

Doch wie schlimm das alles ist, wie vollkommen in seinem Grauen, das begreife ich erst, als sie das MTV-Unplugged-Konzert von Westernhagen auf CD bewerben, und ich denke: Westernhagen? Gar nicht mal so übel.

(seda)
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