Düsseldorf Gotthard-Supertunnel: Experten proben den Ernstfall

Düsseldorf · 2016 soll der längste Eisenbahntunnel der Welt fertig werden. Schon jetzt fahren Testzüge mit 210 Stundenkilometer durch die Röhren.

Die Einfahrt in den längsten Eisenbahntunnel der Welt nahe dem Schweizer Städtchen Bodio ist ein gewöhnlicher Tunnelbeginn: eine fast kreisrunde Betonröhre von etwa acht Metern Höhe, die noch ein paar hundert Meter grasüberwachsen ist, bevor sie im Bergmassiv des Gotthard verschwindet und erst 57 Kilometer weiter bei Erstfeld zurück ins Tageslicht führt. Schon nach einer Minute Fahrt beschränkt sich die Wahrnehmung der Reisenden auf das eintönige Grau der spärlich beleuchteten Röhre. Genau 17 Minuten wird dieses Erlebnis bei Tempo 210 dauern, wenn das Bauwerk im Dezember 2016 für den Verkehr freigegeben ist.

Derzeit endet die Fahrt mit einem sanften Bremsmanöver bei Kilometer 16. Die Lok bleibt im Tunnel stehen. Der aufgewirbelte, feine Betonstaub setzt sich langsam. Der Lokführer geht zum Ende des Zuges, steigt in die andere Lokomotive und fährt wieder zurück. Sein Zug ist vollgestopft mit Elektronik. Im südlichen Teil des neuen Gotthard-Basistunnels haben die technischen Tests begonnen. Der Zeitplan bis Mitte Juni ist eng getaktet, den Ingenieuren bleiben meist nur wenige Tage für ihre Messungen.

"So ein Test muss vorher optimal vorbereitet werden", sagt Andreas Siegrist von der Schweizer Prose AG. Er ist nach Bodio gekommen, um die Energieversorgung der Züge zu untersuchen. Siegrist überprüft den Anpressdruck des Stromabnehmers der Lokomotiven an die 15 000-Volt-Leitung, die die Elektromotoren versorgt. "In einem Tunnel herrschen besondere Bedingungen", erklärt Siegrist, "die Hochgeschwindigkeitszüge erzeugen einen starken Luftsog, der die Stromabnehmer von der Hochspannungsleitung trennen könnte. Verliert der Stromabnehmer den Kontakt, bleibt der Zug mitten im Tunnel stehen."

Der Sog ist so stark, dass in den Röhren für den Alltagsbetrieb keine zusätzliche Belüftung eingebaut wurde, weil genug Luft von außen angesaugt wird. Obwohl es draußen turbulent zu geht, hört man im Abteil kein besonderes Geräusch. Der Zug nimmt bei Tempo 220 ruhig seinen Weg. Zwanzigmal simuliert der Testzug an diesem Tag mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten den Alltag im Tunnel. Die Sensoren an Bord registrieren jede Auffälligkeit. Schließlich gibt Andreas Siegrist grünes Licht: "Die Messwerte sind weit entfernt vom kritischen Bereich. Alles in Ordnung", sagt er.

Experten analysieren tausende technischer Details, damit dieses Mammutprojekt gelingt. Stephan Aerni ist der Herr dieser Zeitpläne. Er koordiniert für den Generalunternehmer, die Alptransit Gotthard AG, den Testbetrieb. Der wichtigste Versuch steht noch bevor: die Evakuierung eines brennenden Zuges.

Die Züge sollen in einer Nothaltestelle anhalten, wenn sie den Tunnel nicht mehr verlassen können. Auf Zweidrittel der Strecke wurden die Röhren mitten im Berg für einen Behelfs-Bahnsteig erweitert, von dem Hilfsstollen zu einer Parallelröhre mit Überdruck führen, in die im Ernstfall kein Rauch eindringen könnte. "Die Hilfe wird durch die Tunnelröhre kommen, in der es nicht brennt", erklärt Aerni. Spätestens 45 Minuten nach einem Alarm sollen die Helfer vor Ort sein, nach 90 Minuten will man alle Passagiere ins Freie befördert haben. Sechs riesige Ventilatoren treiben derweil den Rauch nach draußen.

Die Passagiere werden sich zunächst selbst retten müssen. Ein gelber, 57 Kilometer langer Handlauf in der Betonröhre weist ihnen den Weg. Entweder für die Flucht in die Nothaltestelle oder in einen der 176 Querschläge, die beide Tunnelröhren verbinden. Alle 320 Meter haben die Bergleute die Übergänge aus dem Bergmassiv herausgeschlagen. Die Räume mit feuerfesten Türen dienen gleichzeitig für die technische Versorgung und werden ständig mit sauberer Luft versorgt.

Der geplante Fahrplan stellt gewaltige Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Technik. Mehr als 300 Züge sollen die Strecke nach dem Fahrplanwechsel im Dezember 2016 täglich nutzen, alle fünf Minuten ein Zug: 25 Prozent mehr Reisezüge und 50 Prozent mehr Güterzüge werden die Alpen durchqueren. Die Reise von Zürich nach Mailand dauert statt vier nur noch drei Stunden. Aber drei Viertel des Verkehrs sollen Güterzüge ausmachen. Sie können mehr Waggons transportieren, weil die Lokomotiven nicht mehr die Steigungen bis in 1100 Meter Höhe zum Beginn des Bahntunnel am Gotthard aus dem Jahr 1882 hinauf müssen.

Mehr als ein Dutzend weitere Tunnelerweiterungen und -neubauten entlang der Nord-Süd-Strecke gehören zu dem ehrgeizigen Projekt. Im Jahr 2020 wollen die Bundesbahnen statt bisher 20 Millionen 50 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene transportieren und so die Alpenpässe entlasten. Zwei Drittel der Kosten stammen aus der Schwerverkehrsabgabe, der Rest aus Mehrwert- und Mineralölsteuer, so haben es die Schweizer in einem Volksentscheid bestimmt.

Doch dazu muss auch Deutschland noch viel Geld investieren, damit das Schweizer System nach der Grenze einen gleichwertigen Anschluss findet. Der Oberrhein droht zum Nadelöhr des europäischen Güterverkehrs zu werden - die Deutsche Bahn hängt an dieser Baustelle dem ursprünglichen Plan deutlich hinterher.

(RP)
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