Digitalisierung der Gesellschaft Die Esten werden die Ersten sein

Tallinn · Estlands Bewohner werden zu gläsernen Bürgern: Straftaten und Krankendaten speichert der Staat online. Und erntet nicht einmal Kritik. Im Gegenteil: Nicht zufällig befindet sich in der Hauptstadt Tallinn heute das einzige Cyber-Abwehrzentrum der Nato.

 Taavi Roivas ist 35 Jahre jung und Ministerpräsident Estlands. Er regiert nach eigener Aussage mit Laptop und Smartphone.

Taavi Roivas ist 35 Jahre jung und Ministerpräsident Estlands. Er regiert nach eigener Aussage mit Laptop und Smartphone.

Foto: afp, jk ej

Auf dem ausladenden Holzschreibtisch des erst 35-jährigen Ministerpräsidenten Estlands, Taavi Roivas, liegt ein Laptop. In seiner Hand wiegt er lässig sein Smartphone. "Diese beiden Dinge brauche ich zum Regieren", erklärt er Besuchern als erstes. Die Esten sind stolz auf ihren Fortschritt. Schnelles Internet funktioniert hier im hohen Norden am Rande der Europäischen Union überall, selbst im Wald, heißt es, und Wald gibt es hier viel. Die viel beschworene "digitale Gesellschaft" ist in Estland Realität. Sicherheitsbedenken, wie sie in Deutschland in der Debatte um die Digitalisierung immer vorgetragen werden, kennt man hier nicht.

Dabei hat Estland 2007 eine der ersten, weltweit viel beachtete Cyber-Attacken erlebt. Damals wurden Teile der estnischen Institutionen lahmgelegt, wie das Parlament, Banken, Ministerien und Rundfunkanstalten. Es war ein Fiasko für den jungen Staat. Bis heute wird vermutet, dass der Auftraggeber Russland war. Restlos aufgeklärt ist der Vorgang nicht.

Training für digitale Terrorabwehr

Die Attacke hat die Technikbegeisterung der Esten aber nicht ausgebremst, im Gegenteil. Das Land wirbt mit seinem digitalen Staatswesen — E-Estonia genannt —, und Cyber-Abwehr ist zu einem wichtigen Thema geworden. Nicht zufällig befindet sich in der Hauptstadt Tallinn heute das einzige Cyber-Abwehrzentrum der Nato. Hier werden internationale IT-Experten regelmäßig in Rollenspielen auf den Ernstfall vorbereitet. In Teams aus Angreifern und Verteidigern werden Cyber-Angriffe simuliert und Reaktionen trainiert.

Es ist eine Art Denkfabrik für die Nato. In dem Militärbündnis rechnet man damit, dass die Kriege der Moderne über Cyber-Attacken geführt werden. Je stärker sich ein Gemeinwesen digital organisiert, desto attraktiver wird eine feindliche Übernahme seiner Datensysteme.

Die Esten haben diese neuen Möglichkeiten nicht davon abgehalten, ihr Land noch digitaler zu machen. Die Marschrichtung hat der heutige estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves vorgegeben. Vor mehr als 15 Jahren sagte er: "Estland ist im Internet." Es wurde zum Motto der jungen Nation. Ministerpräsident Roivas schwärmt im Jahr 2015: "Das digitale Leben ist sehr sicher und effizient: Wir sparen damit zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts." Kein Mensch müsste in Estland mehr persönlich bei seinen lokalen Behörden erscheinen.

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80-jährige Pilzsammler mit Smartphone gewünscht

Wer verstehen will, wie "E-Estonia" funktioniert und was es ist, unterhält sich am besten mit Siret Schutting, der Direktorin der Ausstellungsräume des Projekts in Tallinn. Sie vermarktet das digitale Estland. Sie sagt Sätze wie: "Wir sind ein kleines Land. Wir werden nicht die nächste Concorde bauen, aber wir könnten sie erfinden." Wichtig ist bei der Digitalisierung nicht die Fähigkeit, sondern die Anwendung. Keinem Schüler helfe die Verwendung eines Computers als Tafel, wenn er wie eine herkömmliche Kreidetafel verwendet wird. "Wir wollen, dass eine 80-Jährige Frau, die im Wald Pilze sucht, zwischendurch auf ihrem Smartphone checkt, welche giftig sind", erklärt Schutting. "Frische Luft und freies Internet" heißt ihr Werbeslogan. Das Ziel ist klar: Estland will als innovationsfreundlicher Standort für Investoren in neuen Technologien attraktiv sein.

Die Kommunikation der Bürger mit Staat und Behörden läuft in Estland heute weitgehend digital. "Natürlich kann man zur Not auch noch persönlich beim Bürgeramt vorbeigehen, um einen Antrag zu stellen, aber das macht kaum noch jemand", sagt Schutting.

Bei der Geburt bekommt jeder Este eine Identitätsnummer, die sich aus dem Geburtsdatum und der Zahl in der Reihenfolge der an diesem Tag geborenen Kinder in seiner Kommune zusammensetzt. Dazu erhält jeder eine Authentifizierungsnummer und damit eine sogenannte "digitale Unterschrift". Mit dieser digitalen Identität, die nur der Bürger selbst kennen soll, kann er alles online vom heimischen Bildschirm aus erledigen, wofür in Deutschland oft nerven- und zeitraubende Behördengänge notwendig sind. 96 Prozent der Steuererklärungen werden in Estland online eingegeben, erklärt die Direktorin. Es wird online gewählt, und auch auch die Krankendaten werden online gespeichert, genau wie Straftaten.

"Unser Land kann man einnehmen, aber niemals unseren Staat"

Gespeichert werden die Daten der 1,3 Millionen Esten zur Sicherheit in sogenannten Daten-Botschaften auf Servern außer Landes. Auch das betrachten die Esten als Fortschritt. Das Trauma der jahrzehntelangen Besatzung durch die Nationalsozialisten und die Sowjetunion währt bis heute. "Man kann unser Land noch einnehmen, aber niemals mehr unseren Staat", meint Schutting.

Im Gegensatz zu vielen Deutschen halten die Esten die digitale Speicherung und Weiterverarbeitung ihrer Daten sogar für sicherer als den Umgang mit Papier. "Jeder, der in digitale Daten Einsicht nimmt, hinterlässt Spuren. Wer durch meine Papierakten blättert, werde ich nie erfahren", erklärt eine deutsche Diplomatin die Argumentation der Esten.

Das kleine Land tut einiges, um seinen Ruf als digitaler Vorreiter aufrechtzuerhalten. Bürger aus aller Herren Länder haben die Möglichkeit "E-Resident", sozusagen digitaler Bürger von Estland zu werden. Wer sich anmeldet, bekommt natürlich keine Staatsbürgerrechte, kann aber zum Beispiel als Investor schon vom Ausland aus bequem "den Papierkram" erledigen — per digitaler Signatur und online, versteht sich.

Ziel ist es, bis 2025 zehn Millonen "E-Residents" zu gewinnen. Es ist die Zukunftsutopie eines kleinen Landes. "In einigen Jahren wird es nicht mehr wichtig sein, wie groß ein Land ist, im Internet gibt es keine Grenzen mehr", schwärmt ein junger Mitarbeiter von "E-Estonia" Besuchern aus dem Ausland vor. Estland kämpft unterdessen darum, seine jungen Erfinder der IT-Branche im Land zu halten. Noch zu häufig wandern die klugen Köpfe in die USA aus, um ihre Ideen auf einem größeren Markt umzusetzen. Solange das so ist, kann Estland mit seiner Digitalisierung nicht viel verdienen.

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