Bundestag gedenkt Holocaust-Opfern Als es um offene Grenzen geht, klatscht die AfD nicht mit

Eine 92-jährige Auschwitz-Überlebende mahnt im Bundestag davor, den Völkermord an den europäischen Juden nicht zu vergessen. Die AfD verzichtet auf Provokationen - aber zweimal rührt sich bei ihr keine Hand, als alle anderen klatschen.

 Gedenkstunde im Bundestag.

Gedenkstunde im Bundestag.

Foto: afp

Am Arm des Bundespräsidenten kommt Anita Lasker-Wallfisch (92) in den Plenarsaal des Bundestages. Ihr folgt ihre 94-jährige Schwester Renate Lasker-Harpprecht, gestützt von der First Lady und der Kanzlerin. Mit den beiden Frauen betritt Geschichte das Parlament. "Rapide verschwindende Augenzeugen der Katastrophe", sagt die Frau, die zum Gedenken an die Opfer des Völkermordes an den europäischen Juden nach Berlin gebeten wurde. Um zu sagen, was war.

Sie hat ihren Teil gegen das Vergessen seit vielen Jahren geleistet, in denen sie ihren Eid brach. Als sie nach dem zufälligen Überleben des Holocaust ihr Heimatland endlich verlassen konnte, hatte sie sich geschworen, "nie mehr wieder" einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Sie habe "alles Deutsche gehasst". Dann aber gemerkt, dass man sich "mit Hass nur selbst vergiftet". Nun reist sie im hohen Alter durch die Republik, um Zeugnis abzugeben.

 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Anita Lasker-Wallfisch.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Anita Lasker-Wallfisch.

Foto: afp

Doch ihr macht eine Parallele zu schaffen. Ihr Vater, dekorierter Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg, wollte nach der Machtübereignung an die Nazis lange nicht glauben, was geschah. "Die Deutschen können diesen Wahnsinn doch nicht mitmachen", zitiert ihn seine Tochter nach 85 Jahren. Und sie will am liebsten auch gar nicht glauben, was sie jüngst bei einer Reise durch Bayern erlebte, als sie mit dem Sohn eines Täters Termine in Schulen abstimmte und ein Mann an ihren Tisch trat und sich darüber beschwerte, dass sie mit ihrem Gerede über Auschwitz die "schöne Atmosphäre verderben" würde. Für Lasker-Wallfisch ist dieses Erlebnis ein Zeichen dafür, dass sich die Stimmung in Deutschland wandelt: "Das wäre vor fünf Jahren nicht möglich gewesen."

Zuvor hatte auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble leidenschaftlich "vor jeder Form von Ausgrenzung" gewarnt und dies mit den Worten ergänzt: "bevor es zu spät ist". Das unterscheidet das Holocaustgedenken 2018 von dem in früheren Jahren. Der Vorsatz, den "Anfängen wehren" zu wollen, klingt nach Jahrzehnten der gebetsmühlenartigen Wiederholung plötzlich bedrückend. So als seien die Anfänge schon verpasst.

Die AfD verzichtet auf Provokationen, klatscht zumeist mit. Nur an zwei Stellen nicht. Als Schäuble diejenigen kritisiert, die vom "Volk" sprächen, aber nur einen Teil der Bevölkerung meinten. Und als Lasker-Wallfisch davon spricht, wie sich für sie und ihre Schwester damals die Grenzen schlossen und die "mutige, menschliche Geste" würdigt, in der Deutschland heute seine Grenzen öffne. Da rührt sich bei der AfD keine Hand.

Den Lasker-Schwestern hat die Verhaftung auf der Flucht aus Deutschland vielleicht das Leben gerettet. Von den Nazis als Verbrecher behandelt zu werden statt als Juden, habe Vorteile gehabt, berichtet die Überlebende: Ihnen wurde der Prozess gemacht, sie kamen ins Gefängnis — und erst später ins Konzentrationslager von Auschwitz.

Wo Menschen in Rauch verwandelt wurden

Sie erinnert sich an den Tag ihrer Ankunft: "Anita Lasker hörte auf zu sein." Der Kopf wurde ihr geschoren, und sie bekam die Nummer 69388 in den Arm tätowiert. Als Cellistin kam sie ins Mädchenorchester: "Wer gebraucht wurde, hatte Glück." Noch ein Grund für ein zufälliges Überleben. Aber in der Rückschau ein perfider. "Für viele war Musik in dieser Hölle eine absolute Beleidigung", berichtet sie. Aus ihrem Block zwölf neben dem Krematorium habe sie auf die Rampe schauen können, die Selektionen gesehen und dann den Weg in die Gaskammern, in die Krematorien beobachtet, wo "Menschen in Rauch verwandelt" worden seien.

Den Lasker-Schwestern hat die Verhaftung auf der Flucht aus Deutschland vielleicht das Leben gerettet. Von den Nazis als Verbrecher behandelt zu werden statt als Juden, habe Vorteile gehabt, nämlich zum Gefängnis geführt zu werden - und erst später ins Konzentrationslager von Auschwitz.

"Thank you", schließt die Überlebende mit Dank an den Bundestag für sein Gedenken. Alle erheben sich. Und einer spielt Cello. Ihr Sohn Raphael Wallfisch.

(may-)
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