Analyse Die Erfindung des 8. Mai

Ein Tag der Befreiung? Lange tat sich die Bundesrepublik schwer, das Kriegsende so zu nennen. Viele nahmen 1945 den 8. Mai überhaupt nicht als Epochenwechsel wahr. Ein Essay über die allmähliche Verwandlung eines Tages.

Zweiter Weltkrieg - Die Befreiung Düsseldorfs
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Foto: Stadtarchiv

Der Tag des Kriegsendes 1945 war ein Dienstag. So weit sollte der Konsens reichen, könnte man meinen. Die Sache ist aber etwas komplizierter. In Berlin zum Beispiel fällt das Kriegsende auf einen Mittwoch, ebenso in Essen, in Krefeld dagegen auf einen Sonntag, in Duisburg auf einen Donnerstag. Das Kriegsende - das ist 1945 für die meisten Deutschen nicht der 8. Mai, der uns heute, 70 Jahre danach, als Termin sozusagen auf der Zunge liegt.

Kriegsende bedeutet 1945: Ankunft der Amerikaner, Briten, Kanadier, Franzosen - oder, im Osten Deutschlands, der Sowjets. So hat jeder Ort seinen eigenen Tag, von dem an alles anders war. In Krefeld ist es der 4. März, als endlich auch im letzten Stadtteil die Waffen schweigen, in Essen der 11. April, in Duisburg der 12., in Berlin der 2. Mai.

Historische Bilder vom Düsseldorfer Wiederaufbau
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Dennoch dient uns der 8. Mai, eben jener Dienstag, als die bedingungslose deutsche Kapitulation in Kraft trat, als Chiffre eines Neuanfangs. Man kann das ganz vordergründig und doch längst nicht falsch mit dem Bedürfnis erklären, dass es ja irgendein Datum geben müsse, an das anzuknüpfen ist, wenn vom Kriegsende die Rede ist.

Doch jenseits des Bestrebens, diesem Ende gleichsam eine Hausnummer zu verpassen, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Qualität des Übergangs. Schließlich geht es um das Ende eines verbrecherischen Regimes, das seine Zerstörungsenergie in den letzten Monaten noch einmal zu einem monströsen Vernichtungswillen geballt und gegen das eigene Volk gewendet hat. Und es geht um einen Neuanfang unter fremder Herrschaft, zumindest im Westen auch in Freiheit, im Osten unter einer neuen, nun roten Diktatur.

Ende des Zweiten Weltkriegs in Mönchengladbach
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Überlebenskampf der "Zusammenbruchsgesellschaft"

"Stunde null" war lange das Wort für diese Grenze zwischen NS-Terror und Besatzungszeit; heute ist es Mehrheitsmeinung der Wissenschaftler, dass von einer solchen Stunde kaum die Rede sein kann - viele Deutsche waren seit Monaten und sind auch am 8. Mai schlicht mit Wichtigerem beschäftigt, nämlich mit ihrem Überleben, als dass sie einen Epochenwechsel bejubeln könnten. Und sie sind noch lange mit Überleben beschäftigt. Der Historiker Christoph Kleßmann hat diese Zeit, etwa von 1943 bis 1948, "Zusammenbruchsgesellschaft" genannt.

Selbst aus den Erinnerungen der Geburtstagskinder des 8. Mai, die die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" jüngst versammelte, spricht eher Erleichterung als das Bewusstsein, dass von dieser Stunde eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgegangen sei. Symptomatisch ist der Satz des Historikers Arnulf Baring, der am Tag des Kriegsendes 13 Jahre alt wird: "Dass es der 8. Mai war, wussten wir nur dank meiner Mutter, denn sie hielt auf einem Strichzettel fest, welcher Tag gerade war, um meinen Geburtstag nicht zu verpassen." Familiengeschichte schlägt Weltgeschichte.

Bilder von Leverkusen zum Kriegsende
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Trotzdem werden die Deutschen mit dem 8. Mai nicht so einfach fertig - der Tag ist mit "Kapitulation" nicht erschöpfend ausgedeutet. Denn da ist immer noch die Frage, was der 8. Mai denn nun bedeutete: Zusammenbruch? Niederlage? Katastrophe? Demütigung? Hoffnungsschimmer? Befreiung? Auch die Aufarbeitung der ungeheuren NS-Verbrechen macht sich am 8. Mai fest, denn der Holocaust konnte nur unter Kriegsbedingungen vollzogen werden, ja der Holocaust war mindestens ab 1941 einer von Hitlers Kriegszwecken.

Man staunt heute, wie lange das Nachkriegsdeutschland an dieser Frage laborierte. 1965, 20 Jahre nach Kriegsende, fasst es Kanzler Ludwig Erhard so: "Ja - wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, dann allerdings hätte die ganze Menschheit Grund genug, den 8. Mai als einen Gedenktag der Befreiung zu feiern. Wir alle wissen, wie weit die Wirklichkeit davon entfernt ist." Es sei vielmehr ein Tag gewesen, "so grau und trostlos wie so viele vor oder auch noch nach ihm".

Fünf Jahre später schlägt Willy Brandt ganz ähnliche Töne an. "Was vor 25 Jahren von unzähligen Deutschen neben der persönlichen als nationale Not empfunden wurde", sagt er vor dem Bundestag, "war für andere Völker die Befreiung von Fremdherrschaft, von Terror und Angst." Befreiung auch der Deutschen - das geht 1970 noch nicht, möglicherweise auch weil die DDR den 8. Mai penetrant als "Tag der Befreiung vom Hitler-Faschismus" zelebriert, ohne sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen. Faschisten, das sind dort immer die anderen.

Zwei einfache Sätze des Bundespräsidenten

Die heute kanonische Deutung des 8. Mai gelingt (nach Vorarbeit durch Walter Scheel und Helmut Kohl) erst 1985 Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum Kriegsende, mit zwei einfachen Sätzen: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Das umgreift die Verbrechen, deren Erinnerung heute neben dem Neuanfang das Gedenken bestimmt und eindeutig in Richtung "Befreiung" dreht.

Die Erinnerung an den 8. Mai ist ein Paradebeispiel dafür, was Historiker Konstruktion der Vergangenheit nennen: ein Vorgang, mittels dessen sich Gemeinschaften klarwerden, was sie mit einem Datum, einem Ort, einem Namen verbinden wollen. "Konstruktion" bedeutet dabei nicht Fiktion oder Fälschung, sondern Struktur, Übereinkunft. Platter gesagt: Der 8. Mai ist das, was wir aus ihm machen.

Dabei kommt es nicht in erster Linie darauf an, dass dieser Tag in Deutschland nie ein Feiertag des Volkes geworden ist wie etwa der Befreiungstag in den Niederlanden. Zu belastend mag das Bewusstsein der millionenfachen Morde in deutschem Namen sein, zu drückend ist allemal die Erinnerung an gefallene Väter, an Großmütter, die unter den Bomben starben.

Entscheidend ist der Konsens, der in der Gesellschaft über die Bedeutung des 8. Mai besteht. Und zum gesunden politischen Menschenverstand der Nation gehört sieben Jahrzehnte nach Kriegsende der Satz von Gerhard Schröder, den dieser im Jahr 2000 passenderweise bei der Eröffnung einer Ausstellung zur jüdischen Geschichte sagte: "Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist - der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, von Völkermord und dem Grauen des Krieges." Das ist nicht nur Weizsäcker, das ist Weizsäcker plus die Feststellung, dass die Deutschen etwas gelernt haben.

Das ist die eigentliche Lehre dieses sehr deutschen Tages. Gäbe es den 8. Mai nicht, man müsste ihn erfinden.

(RP)
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