Interview: Andrea Di Nicola "Die Schleuser sehen sich als Heilige"

Smart und gebildet – Menschenschmuggler sind oft gar nicht so, wie man sich das vorstellt. Ein italienischer Kriminologe hat sie befragt.

Smart und gebildet — Menschenschmuggler sind oft gar nicht so, wie man sich das vorstellt. Ein italienischer Kriminologe hat sie befragt.

Herr Di Nicola, Sie haben bei Ihren Recherchen mit vielen Schleusern gesprochen. Wie ticken diese Leute?

Di Nicola Das sind clevere Typen. Gute Geschäftsmänner, die immenses Geld verdienen. Und ganz anders als man sich gemeinhin einen Schleuser vorstellen würde. Nehmen wir den Mann etwa, der ein ägyptisches Schleusernetzwerk kontrolliert: Er nennt sich El Douly, also "der Internationale". Er ist Mitte 40, sehr gebildet, spricht mehrere Sprachen. Immer, wenn wir ihn getroffen haben, trug er fünf bis sechs internationale Zeitungen mit sich. Er hält sich konstant am Laufenden, was sich in Europas Flüchtlingspolitik tut, um in seiner Arbeit möglichst schnell darauf reagieren zu können. Was bei den Gesprächen mit den Schleusern außerdem auffallend war: Viele sind - verstehen Sie mich nicht falsch - auf gewisse Art ziemlich einnehmend: Sie sind offen und können mit Leuten sehr gut umgehen. Dennoch: Unterm Strich geht es ihnen natürlich darum, viel Geld zu machen. Mit dem Risiko, dass ihre "Klienten" - so nennen sie die Flüchtlinge - dabei sterben.

Skrupellos also?

Di Nicola Manchen ist das Schicksal der Flüchtlinge tatsächlich egal. In Libyen etwa ist das derzeit oft der Fall - aufgrund des dortigen Chaos und der nicht versiegenden Flüchtlingsströme wittern viele Pfuscher eine Gelegenheit für schnelles Geld. Andere dagegen kümmern sich tatsächlich um die Flüchtlinge, natürlich aus Eigeninteresse: Je mehr Leute sie heil nach Europa bringen, umso besser ist ihr Ruf, umso mehr neue Kunden gewinnen sie und umso mehr Profit machen sie.

Wie sehen sich die Schleuser?

Di Nicola Sie sehen sich als Wohltäter, manche sogar als eine Art Heilige. El Douly erzählte zum Beispiel, in einigen Gegenden Ägyptens küssten ihm Dorfbewohner die Hände. Generell treten Schleuser gerne als Leute auf, die Träume verkaufen. Die Flüchtlinge sehen das übrigens ähnlich. Sie sagen: "Niemand kümmert sich um meine Probleme, aber die helfen mir wirklich."

Wie muss man sich den Ablauf einer Schleuseraktion vorstellen?

Di Nicola Das ist ein verästeltes Netzwerk mit einem sehr hohen Grad an Arbeitsteilung. Man kann sich das vorstellen wie eine große, kriminelle Reiseagentur: Der eine ist für die Akquise von Flüchtlingen zuständig, ein anderer treibt das Geld ein, der nächste kümmert sich um die Transportmittel, ein weiterer sorgt für Ordnung und so fort. In der Türkei haben wir etwa ein Netzwerk kennengelernt, wo die gesamte Arbeitskette für eine Schleuseraktion aus 40 bis 60 Personen besteht!

Weshalb sind diese Netzwerke so schwer zu zerschlagen?

Di Nicola Ein Grund ist, dass Schleuser seit Jahren stabile "Marktbedingungen" vorfinden, sprich: Es gibt immer irgendwo Krisen oder Kriege, die verzweifelte Leute dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen. Und da es eben kaum legale Wege gibt, nach Europa zu kommen, passiert es auf illegalem Weg mit Schleusern. Ein anderer Grund ist, dass Europa meistens nicht die großen Bosse sondern die kleinen Fische dingfest macht, etwa die Steuermänner der Schiffe. Die sind jedoch nur das letzte, unbedeutende Glied in der Kette des Schleusernetzwerks. Wird einer verhaftet, steht der nächste schon zur Stelle.

Der neueste Plan der EU: Vor der libyschen Küste die Boote von Schleusern zerstören. Was wird das bringen?

Di Nicola Kurzfristig vielleicht einen punktuellen Erfolg. Langfristig bringt es nichts. Denn die Schleuser werden umgehend auf die neuen Umstände reagieren und ihre Routen sowie Methoden anpassen.

Ist das florierende Schleusergeschäft ein Spiegel der Asylpolitik Europas?

Di Nicola Ein Schleuser hat uns einmal gesagt: "Je mehr ihr die Grenzen der Festung Europa hochzieht, umso besser für unser Geschäft. Wir verlangen einfach höhere Preise." Und tatsächlich: Auf diese Weise fördert die EU nur die Nachfrage nach Schleuserdiensten. Man muss sich vor Augen halten, dass das ein riesiger Markt mit riesigen Profiten ist - nach dem Drogenhandel das einträglichste Geschäft: Es wird auf zehn Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Allein der Menschenschmuggel im Mittelmeer kommt auf 600 Millionen Euro pro Jahr.

Was kann Europa tun, um die Schleuser zu stoppen?

Di Nicola Derzeit sind selbst jene Flüchtlinge, die vor Kriegen fliehen und Recht auf politisches Asyl in Europa haben, gezwungen kriminelle Schleuser in Anspruch zu nehmen - um ihr Recht auf Asyl überhaupt erst wahrnehmen zu können! Eine Möglichkeit wäre es, in Tunesien oder der Türkei sichere Lager zu errichten, wo die Flüchtlinge Asyl beantragen können. Ein weiterer Punkt: Wir müssen koordiniert gegen die großen Bosse im Menschenschmuggel vorgehen. Das Wichtigste ist aber: Die EU braucht dringend eine Vision für eine einheitliche und humane Migrationspolitik.

IRIS MOSTEGEL STELLTE DIE FRAGEN

(RP)
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