Poesie, die aufweckt Demenzkranke mit Worten erreichen

Marburg · Schon einfache Fragen überfordern Demenzkranke. Denn die Sprache fällt dem geistigen Verfall oft als erstes zum Opfer. Mit Reimen und Sprüchen lassen sich Erinnerungsprozesse in Gang setzen, bei denen die Betroffenen oft ganz klar wirken.

 Die "Alzpoesie" ermöglicht Demenzkranken einen besseren Kontakt zu ihren Erinnerungen und Gefühlen.

Die "Alzpoesie" ermöglicht Demenzkranken einen besseren Kontakt zu ihren Erinnerungen und Gefühlen.

Foto: dpa, Tanja M. Gleiser

Worte können informieren und Sinn stiften, sie können berühren und verletzen. Welche Macht sie besitzen, wird einem dann bewusst, wenn sie fehlen. Viele Demenzpatienten erreichen diesen Zustand mit zunehmender Schwere ihrer Erkrankung. Erinnerungen zerbröseln, selbst Gespräche über einfache Dinge wie das Wetter oder Essen scheinen unmöglich. Während alltägliche Themen durch das Raster fallen, dringen einige Worte noch zu ihnen durch - zum Beispiel in Form von Gedichten, Sinnsprüchen oder Liedtexten. Worte können Demenzkranke wachmachen, aufwecken. Ein deutsches Projekt, das dieses Konzept verfolgt, heißt deshalb "Weckworte".

Es begann beim "Poetry Slam"

Lars Ruppel ist von Beruf Poet. 2001 fing der 27-Jährige an, bei Poetry Slams mitzumachen. Über eine Freundin in New York wurde er auf Gary Glazner und dessen "Alzheimer's Poetry Project" aufmerksam. Dabei werden gemeinsam mit Alzheimerpatienten Gedichte gesprochen, rhythmisch Texte aufgesagt, es wird geklatscht und improvisiert. Ruppel war fasziniert. "Da hat es geknallt", erzählte er in einem Interview. 2009 holte er Glazner für einen gemeinsamen Workshop nach Deutschland. Seitdem tingelt Ruppel durchs Land, schult Pflegekräfte in Heimen und besucht mit Jugendlichen Demenzpatienten.

In seinen "Sessions" geht es darum, ohne viel Vorwissen den älteren Menschen Gedichte so lebendig wie möglich vorzutragen - von Schiller oder Heinz Erhard. Voraussetzung ist ein positiver Inhalt und eine gewisse Bekanntheit. Melancholisch wirkende Texte wie "Der Panther" von Rilke seien nicht geeignet. "Das ist inhaltlich zu nah am Leben der Bewohner dran", findet Ruppel.

Bilder die Gefühle wecken

Viele der Texte kennen Demenzpatienten noch aus ihrer Schulzeit. Deshalb können sie oft völlig unvermittelt einsteigen, mitsprechen oder -klatschen. "Es geht um Momente, darum, den Betroffenen ein schönes Gefühl zu vermitteln", erklärt Ruppel. Das könne man sehen und spüren: "Die Alten werden aufgeweckt, zeigen Emotionen, setzen sich auf einmal aufrecht hin." Wichtig sei, als Sprecher den Erkrankten maximale Aufmerksamkeit zu schenken. "Auch, wenn jemand schläft oder nicht reagiert." Dann versuche er, die Person über seine Stimmfarbe oder durch Körperkontakt zu erreichen.

Die Wirkung der "Weckworte" erlebte Kathy Hörder in einem der Workshops von Ruppel hautnah mit. Sie arbeitet als Ergotherapeutin in dem Altenheim St. Jakob in Marburg. Etwa 20 Demenzerkrankte leben dort, insgesamt hat das Haus 140 Plätze.

Eine Stunde Reimen habe auf die Bewohner einen deutlichen Effekt: "Sie sind total aufmerksam und bleiben länger bei der Sache als sonst", erzählt Hörder. Auch am nächsten Tag erinnerten sich die Bewohner noch an die Gedichtzeilen. Eine an Demenz erkrankte Frau frage häufig: "Ach, kommt der Gedichtemann wieder?" Dabei könne sie sich sonst nichts mehr merken. "Das ist schon bemerkenswert", sagt Hörder.

Sprache und Denken

Mit dem Einfluss von Sprache in der Altenpflege beschäftigt sich die Kommunikationstrainerin Svenja Sachweh, die auch Mitglied in der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ist. Sie schult Pflegepersonal, Ergotherapeuten und Angehörige. Entscheidend in der Kommunikation mit Demenzerkrankten sei es, den Bestand im Langzeitgedächtnis anzusprechen. Denn dieser ist im Unterschied zum Kurzzeitgedächtnis noch intakt. Besonders gut klappe das mit Musik und Rhythmus, Sprichwörtern und Reimen: "Die Erkrankten erleben sich als kompetent und merken, sie können noch etwas. Das ist sehr befriedigend und befreiend für sie."

Auf diese Art angesprochen, könnten sich Demenzpatienten zusammenhängender äußern, wirkten entspannter und weniger ängstlich.
Die Demenz sorge vor allem für Ausfälle auf dem Gebiet der Logik und der Abstraktion. "Kreatives, Nonverbales und Emotionales bleibt dagegen länger erhalten", sagt Sachweh.

Lars Ruppel hat bislang etwa 50 Einrichtungen besucht, um dort mit alten Menschen zu reimen. "Die Nachfrage ist enorm", sagt er. Sein Ziel sei, die Pfleger so zu schulen, dass sie selbst mit den Erkrankten reimen können. Nicht immer müssten sie sich dafür 45 Minuten Zeit nehmen. "Es reicht auch, das in den Alltag einzustreuen, zum Beispiel beim Waschen, Essen oder vor dem Schlafengehen."

Wichtig für das Vermitteln der Gedichte sei Einfühlungsvermögen.
"Ich muss erkennen können: Was braucht dieser Mensch? Muss ich vielleicht in die Knie gehen, damit er mir in die Augen schauen kann, muss ich lauter sprechen, damit er mich hören kann?", zählt Ruppel auf.

"Alzpoesy" schafft neue Verbindungen

Ab und zu liege man mit seiner Einschätzung aber auch daneben und werde von der Person abgewehrt. "Irritationen gehören dazu. Eben hat die Person noch eine Zeile mitgesprochen und im nächsten Moment fragt sie: 'Wer sind Sie denn?'", erzählt Ruppel. Die Ansprache von Demenzkranken basiere letztlich auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum, bestätigt auch Kommunikationstrainerin Sachweh.

Es bestehe kein Zweifel daran, dass Poesie Demenzkranke sehr stark berühren könne, sagt Ruppel. "Man kann aber nicht immer das gleiche Feedback erwarten." Klar sei auch, dass die Personen nichts Neues mehr lernen können. Nach den Worten von Gary Glazner, dem Erfinder der Alzpoetry, geht es darum aber auch gar nicht. In einem Interview danach gefragt, wie Poesie Demenzkranke und Angehörige verbinden könne, sagte er: "Wenn durch Alzheimer soviel vom Geist verloren gegangen ist, ist Poesie ein kraftvolles Mittel, um eine Verbindung zu diesem Menschen zu finden."

Demenzkranke mit Fragen nicht überfordern

Demenzkranke dürfen mit Fragen nicht in Entscheidungsstress versetzt werden. Ungünstig sind deshalb Frageketten wie "Willst du Kaffee oder Tee oder Kakao?", erläutert Svenja Sachweh, Kommunikationstrainerin mit dem Schwerpunkt Altenpflege in Bochum. Besser sei es, in dieser Situation dem älteren Menschen eine Tasse Tee oder Kaffee zu zeigen und anhand seiner Reaktion eine Antwort abzuleiten. Gute Fragen zeichneten sich durch ihre Einfachheit aus, zum Beispiel: "Schönes Wetter heute, findest du nicht?"

(dpa)
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