Düsseldorf Der Mittelstandsflüsterer

Düsseldorf · Heute erscheint das neue Album von Herbert Grönemeyer. Auf "Dauernd Jetzt" verbreitet der 58-Jährige sanften Optimismus. Er erfindet das Wort "Feinmatrose" und besingt das Tor von Mario Götze bei der Fußball-WM.

In England gibt es Hofdichter, die müssen Verse schreiben, wenn bei Royals etwas Besonderes passiert, wenn ein Thronfolger geboren wird zum Beispiel oder die Queen ein Jubiläum feiert. In Deutschland haben wir so einen auch, er ist jedoch von keinem Souverän bestallt worden, sondern von den Untertanen: Er singt nicht für den Palast, sondern für die Leute in den Doppelhaushälften. Er ist niemandem verpflichtet, nur den Signalen, Gefühlen und Vibrationen, die er empfängt. Man kann ihn nicht beauftragen. Er meldet sich, wenn es so weit ist, wenn er zur Sprache bringen muss, was viele empfinden. Er ist Volkssänger, Nationaldichter und Mittelstandsflüsterer. Sein Name lautet Herbert Grönemeyer.

Heute erscheint Grönemeyers neue Platte, sie heißt "Dauernd Jetzt", und das emotionalste, bemerkenswerteste und schrägste Lied darauf ist "Der Löw". Natürlich handelt es vom Sieg bei der Fußball-WM, "Der Löw war los / Sie waren grandios", kalauert Grönemeyer, doch dann wird es staatstragend und lyrischer, als jede Versschule erlaubt: "Im Tunnel, im Hier und Jetzt / Letzter Moment kommt über links / Schwebt ein, senkt sich zwischen die Flügel / Direkt aus der Luft, von der gebogenen Brust / Seitfallschuss, Hand Gottes Gefüge." Es ist irre, Grönemeyer singt von Götzes Tor, er singt wie einer, der vom Public Viewing euphorisiert heimkehrt und mal ein bisschen ausprobiert, angeschickert rumreimt und wortschmiedet. Und dabei ist es egal, ob das nun das Gelbe vom Ei ist oder nicht, und ebenso egal ist, was das Wort "Gefüge" da eigentlich soll.

Seit "4630 Bochum", seit 1984 also, erreichte jedes Album von Herbert Grönemeyer Platz eins der deutschen Charts, und vielleicht sollte mal ein Wissenschaftler herausarbeiten, wie sehr die Menschen hierzulande ihre Herzen an Lieder hängen, nämlich stärker als anderswo, und wie dankbar sie sind, dass jemand ihre Bewegtheiten in Verse fasst und vertont. Die Sozialgeschichte der vergangenen 15 Jahre lässt sich an "Mensch" von Herbert Grönemeyer, an "Tage wie diese" von den Toten Hosen und auch an "Atemlos" von Helene Fischer ablesen, und wenn man noch weiter zurückgeht, findet man noch mehr Grönemeyer. Er war immer da, wenn man sich spürte, wenn das Leben von vorne kam.

Grönemeyers Texte verhandeln, was uns in der Tagesschau ängstigt, in durchwachten Nächten tröstet und vor der Haustür nervt: Parkplatzsuche, Betrogenwerden, Flugzeuge im Bauch, Currywurst. Und gerade das Misslungene und leicht Danebenliegende, die verschluckten Vokale und abgeschliffenen Endungen, die Brüche und das "Ohohoo" des frühen Grönemeyer sind dabei das Wertvolle.

"Dauernd Jetzt" fügt sich nun ins Spätwerk des 58-Jährigen. Er schreibt ja keine Hits im klassischen Sinne mehr, er hat sich in seinen eigenen Wind gedreht und segelt inwärts. Er öffnet seine lyrische Hausapotheke, versorgt uns mit Versen. Der Schriftsteller Michael Lentz verglich Grönemeyer in der FAZ-Besprechung des Vorgängeralbums mit Dante, und er meinte allen Ernstes den Dichter und nicht den Kicker, wobei es ihm aber doch wohl eher um Gunstbezeugung als um Literaturwissenschaft ging.

Jedenfalls: Diesen hohen Ton findet man nun wieder. "Liegen meine Steine im Gewühl / Fangen die Tage an, mit mir zu streiten / Sind die Grenzen längst gesetzt / werde ich zu viel", heißt es in dem Liebeslied "Morgen". Da denkt man noch, man ahnt immerhin, was Grönemeyer meinen könnte, aber: nun ja. Der Refrain geht dann jedoch so: "Du bist mein Vorbote / Meine Batterie, mein Betrieb / Mein Feinmatrose / Ich bin stolz, dass du mich liebst". Und das ist es dann, da hat er uns, das zieht einem den Stecker, allein das Wort "Feinmatrose": Das ist so grönemeyeresk, das Wort gibt es ja gar nicht, er hat es für uns gebacken. "Feinmatrose" will man jetzt auch häufiger sagen. Außerdem das Liebes-Bekenntnis am Schluss: Auf sowas laufen Grönemeyer-Lieder hinaus, sie bereiten strophenweise ein Bekenntnis vor, man sieht jemandem zu, wie er sich gleich traut, und dann haut er es einfach raus und guckt, was passiert: "Ich bin stolz, dass du mich liebst." Wahnsinn. Grönemeyer war einst Schauspieler, heute singt er Rollenprosa.

Die Platte beginnt rockig, der Mittelteil ist balladenschwer, und fürs letzte Lied nimmt Grönemeyer seine Hörer mit in die Disco. Er experimentiert mit Elektronik, aber seine Stimme ist zu wuchtig für das Gefrickel, und seine Texte werden auch immer länger. Die Stimmung ist indes optimistisch: "Ich dauer jetzt, leb momentan / Heute mach ich mir keine Sorgen". Zwischendurch gibt es Sätze, die man sich in den Notizblock des iPhones tippen möchte, aber nur, weil man gerade keine Nadel dabei hat, um daraus ein Stickbild zu machen: "Ich lieb mich durch zu dir" zum Beispiel.

Kann sein, dass Grönemeyer seit "Bleibt alles anders" kein durchgängig gelungenes Album mehr gemacht hat, auch dieses überzeugt nicht auf der vollen Distanz. Aber er steht so weit über allem, dass das keine Rolle mehr spielt. Dieses Lebenswerk ist das Urmeter deutschen Befindens, Grönemeyer ist stets stellvertretend bewegt. Seine Platten sind Poesiealbum, Tagebuch, Kanon und Geschichtswerk. Vielleicht könnte man sogar sagen, sie sind Deutschland.

Es beweist die Größe eines Poeten, wenn man den Stand der Dinge mit einem seiner Verse auf den Punkt bringen kann: Momentan ist richtig, momentan ist gut.

(RP)
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