"Exit Sugartown" Geschichten von Flucht und Fremdsein

Rahaf flieht aus Syrien. Mahtab verlässt das Reich der "Blutroten". Dawn will der Armut entkommen. Die neuen Kinder- und Jugendbücher greifen aktuelle Themen auf - mal düster, mal märchenhaft, mal humorvoll.

Schule ist ein Luxus, den sich Dawn nicht leisten kann. In ihrer Stadt Sugartown riechen die Häuser nach Schweiß und die Kinder stellen sich einen Löffel Honig vor, um satt zu werden. Als ihre Mutter stirbt, schmeißt die 16-Jährige die Schule und übernimmt den Job der Mutter als Näherin. Doch das Geld reicht nicht. Der Vater trinkt. Der kleine Bruder Charlie jobbt in einer Ziegelei. Das ist die Ausgangssituation in Martin Petersens Jugendroman "Exit Sugartown". Dawn gerät in die Fänge einer Schlepperbande, die ihr gut bezahlte Arbeit und ein besseres Leben in der "Weißen Welt" versprechen. Mit ihrer Freundin Didi tritt sie die Reise an.

Zusammengepfercht auf Lastern und in einem überfüllten Schlauchboot kommen sie in "City" an und spüren sofort den Druck, Geld zu verdienen: Sie haben Schulden bei den Schleppern, die Familie zu Hause wartet auf Geld. Doch als Illegale bleiben ihnen nur Knochenarbeit auf der Salatplantage und Prostitution. Dawn findet eine andere Einnahmequelle - allerdings in schlechter Gesellschaft. Derb und kühl erzählt Dawn ihre Geschichte. Sie erlaubt sich kaum Gefühle, ihr fehlt der Horizont für allzu viel Reflexion, trotzdem kämpft sie darum, das Beste aus ihrem Leben zu machen, um ihrem kleinen Bruder Geld nach Hause zu schicken.

Petersens Roman erzählt eindrucksvoll, wie viel Armut und Aussichtslosigkeit sich hinter dem Wort "Wirtschaftsflüchtling" verbirgt, ohne den Begriff auch nur zu gebrauchen. Als Pseudonyme für reale Orte hat er die Fantasienamen "Sugartown" und "City" gewählt und macht damit deutlich: Es gibt viele Sugartowns auf dieser Welt, und es gibt viele Menschen wie Dawn.

"Bestimmt wird alles gut" erzählt ebenfalls ein typisches Flüchtlingsschicksal aus der Sicht der zehnjährigen Rahaf: der Bürgerkrieg in Syrien, die Flucht, die Überfahrt in einem überfüllten Boot, die Schleuser, die Rahafs Puppe Lulla stehlen, die Odyssee durch Europa, das Erstaufnahmelager, die trostlosen, engen Flüchtlingsunterkünfte, die Sprachbarrieren, die Isolation, das Heimweh - und das kindliche Vertrauen, dass alles wieder gut wird.

In einfacher Sprache erzählt die vielfach ausgezeichnete Autorin von Rahaf und ihrer Familie. Die knappe Sprache und die naiv-nüchterne Perspektive von Rahaf machen das Buch eindringlich. Sie schildert, ohne zu werten. "Wenn die Flugzeuge über das Haus geflogen sind, haben die Fenster gescheppert ... und manche Menschen sind hinterher nicht mehr aufgestanden." So wird auch Kindern klar, was Bürgerkrieg, Flucht und Fremdsein bedeuten. Das deutsch-arabische Bilderbuch von Kirsten Boie und Cartoonist Jan Birck richtet sich an Leser ab sechs Jahre.

"Das Mondmädchen" erzählt die Geschichte einer Flucht ebenfalls aus der Perspektive des Kindes. Die zehnjährige Mahtab muss vor der Tyrannei der "Blutroten" fliehen, und so beginnt die Reise von Mahtab und ihrer Familie aus dem Morgenland in einem finsteren Lastwagen der Schlepper. Die Iranerin Mehrnousch Zaeri-Esfahani hat daraus eine poetische, orientalisch anmutende Geschichte gemacht. Die realen Schilderungen wechseln sich ab mit Sequenzen aus Mahtabs Fantasie. So wie die Familie aus dem Kaiserreich flieht, entflieht sie vor Heimweh und Angst in ihre Traumwelt Athabasca. Dort trifft sie auf die Fee Pari mit den strahlend blauen Haaren, auf den Schwan Ipamen, und dort findet sie auch ihre eigenen, inneren Kraftquellen. Zaeri-Esfahanis Kinderbuch ist ein Loblied auf die Macht der Fantasie und die Intuition der Kinder. Begleitet wird das "Mondmädchen" von den fantastischen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Mehrdad Zaeri.

Der französische Theaterautor Jean-Claude Grumberg wählt einen anderen Stil, um von Flucht und Verfolgung zu erzählen. "Ein neues Zuhause für die Kellergeigers" beleuchtet das Schicksal nicht exemplarisch, es verallgemeinert - mit einer guten Portion Ironie. Stellvertretend für die Verfolgten stehen die "Kellergeigers". Sie wandern aus, weil die Leute in ihrer Heimat sie nicht mögen: "Manche Leute behaupten - vor allem die, die eine runde Nase haben - sie mögen die Kellergeiger nicht, weil sie spitze Nasen haben, und die, die spitze Nasen haben, mögen die Kellergeiger nicht, weil sie runde Nasen haben." So zart wie der Humor, so filigran sind die Zeichnungen von Ronan Badel. Mit Witz führt ein Erzähler durch die Geschichte und entlarvt - sprachlich schön - Rassismus und Bürokratie als von Menschen gemachte Absurditäten.

Die Kellergeigers erleiden das Schicksal vieler Flüchtlinge: geschlossene Grenzen, Ausgrenzung, Vorurteile, die Familie wird zerrissen. Doch ihre Geschichte geht gut aus. Warum? Weil die Musik der Kellergeigers erhärtete Herzen erweicht, und weil einige Geschichten doch ein gutes Ende haben müssen.

Vom Anders-Sein handelt das Bilderbuch "Elefanten im Haus": "Nimm Dich bloß in Acht, die Neuen sind da." Das sagt eine Nachbarin zur kleinen Fine im Hausflur des Mehrfamilienhauses. Dabei ist Fine neugierig, wer über ihnen eingezogen ist und so laut trampelt. Die andere Nachbarin schlussfolgert sofort: "Es sind Elefanten." Während die Nachbarn bereits über die neuen Hausbewohner herziehen, klopft Fine bei den Neuen an die Tür und stellt fest, dass die Elefanten Kinder zum Spielen haben und auch sonst sehr nett sind. Tatsächlich hat Illustratorin Astrid Henn die Fremden als Elefanten gezeichnet, eine hübsche Metapher für alle Unbekannten. In fröhlichen Bildern, einem witzigen Text und mit einer guten Portion Augenzwinkern packt das Bilderbuch das Thema Toleranz an.

(RP)
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