Bonn Im Depot der Geschichte

Bonn · Das Haus der Geschichte in Bonn öffnet sein Archiv. Ab sofort kann jeder in das kulturelle Gedächtnis der Nation hinabsteigen.

Die Dinge nehmen im Gebrauch etwas von den Menschen an, das ist einfach so, sie laden sich mit Aura auf, und man sieht das ziemlich schön an dem Tannenbaum aus Sperrholz. Er ist sehr einfach, da haben Menschen ein bisschen gesägt, lackiert und zusammengesteckt, und das unscheinbare Objekt, das man sonst vielleicht übersehen oder belächeln würde, bekommt durch seine Geschichte einen Wert. Die ersten Soldaten der Bundeswehr, die 1993 in Somalia eingesetzt wurden, haben ihn nämlich gebastelt und grün angemalt. Er war ihr Symbol für Heimat und Geborgenheit in der Ungewissheit der Fremde.

Tausende solcher Objekte kann man nun in Bonn besichtigen. Das Haus der Geschichte öffnet erstmals sein Depot. Der Ort hat etwas von jenen Asservatenkammern, die manchmal im "Tatort" zu sehen sind. Dokumente der Geschichte lagern dort hinter Stahltüren, jedes einzelne ein Beziehungsknotenpunkt zum Leben vorangegangener Generationen. Sie verbinden individuelle mit kollektiver Historie. Der Kaugummiautomat aus den 60er Jahren etwa. Er heißt "Saturn 2000", er sieht aus wie eine Rakete, weil man damals so gerne vom Weltraum träumte, und er ist gefüllt mit bunten Kugeln, die heute steinhart sind und früher total verlockend gewirkt haben müssen. Zehn Pfennig kostete eine, man musste bloß die Münze einwerfen, den Hebel herunterdrücken und an einer Kurbel drehen - das wird auf einem kleinen Schild unter dem Einwurfschlitz rührend einfach erklärt -, dann kullerte sie heraus.

Dietmar Preissler ist der Sammlungsdirektor in Bonn, der Herr der Dinge sozusagen, und er fügt dem eine Million Artikel umfassenden Bestand ausschließlich solche Stücke hinzu, die etwas über den Alltag der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit erzählen. Im Grunde häuft Preissler also Geschichten an, und wenn man hier unter den tiefen Decken steht, an denen rote Leitungen laufen, die dafür sorgen, dass stets leichter Überdruck herrscht, damit nicht alles gleich verstaubt, wird man poetisch. Man stellt sich vor, wie nachts, wenn kein Mensch mehr da ist, die Gegenstände einander von früher erzählen. Dem eigentümlich aussehenden Fernseher der Firma Loewe würde man dann besonders gerne zuhören. Er stand im Büro von "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein, und der ließ sich unter den Hauptbildschirm vier kleinere bauen, damit er immer fünf Sender gleichzeitig schauen konnte und nie ein Ereignis auf der Welt verpasste.

Im Depot, wo es ein wenig nach alten Schuhen riecht, findet jedes Stück seinen Platz, das in der Dauerausstellung oben nicht gebraucht wird. Es wird digital erfasst, natürlich inklusive der Geschichte, die es in sich birgt. Und da derzeit das Dach des Hauses in Reparatur ist und die Dauerausstellung ohnehin bis November geschlossen bleibt, führt man die Leute halt solange in die zwei Stockwerke unter der Erde gelegene Rumpelkammer der Nation. "Jetzt betreten Sie Ihr kulturelles Gedächtnis", sagt Preissler denn auch gleich zu Beginn. Da seufzt man: Der Dachboden der Deutschen ist ein Keller in der ehemaligen Hauptstadt.

Wobei man ehrlich sagen muss, dass einige Bereiche gar nicht betreten werden dürfen, weil zu viele transpirierende Körper die klimatischen Bedingungen drastisch verschlechtern würden. Besichtigt werden dürfen lediglich robuste Gegenstände, zumeist aus Metall und Holz, ein paar Tausend sind es immerhin. Bevor ein Stück in Bonn verwahrt wird, lässt man es auf seine Echtheit prüfen. Den Zettel etwa, von dem Günter Schabowski, Sekretär für Informationswesen, am 9. November 1989 die neue Regelung für Reisen ins westliche Ausland für DDR-Bürger ablas. Wann sie in Kraft trete, wurde er damals gefragt. "Unverzüglich", sagte er; danach gab es kein Halten mehr. Nach dem Blatt hatte man lange gesucht, selbst Schabowski wusste nicht, wo es geblieben war, und als es jemand aus heiterem Himmel dem Museum anbot, ließ man ein Heer von Dokumentaristen und Forschern die Handschrift und das Papier untersuchen. Ergebnis: ist echt, super, nehmen wir. Nun liegt es hinter Glas: das Blatt, das die Mauer öffnete.

Es gibt einen Flügel aus der Semperoper in Dresden, an dem noch der Schlamm des Elbe-Hochwassers aus dem Jahr 2002 klebt. Die Tür eines New Yorker Polizeiwagens, der am 11. September 2001 am World Trade Center stand. Die Overstolz-Reklame aus den 50ern. Das Tintenfass, in das Adenauer den Füller tunkte, bevor er 1949 das Grundgesetz unterzeichnete. Da ist das Stück eines Rosinenbombers. Ein Werbeschild für Sobra-Sonnenschutz-Gel mit Luis Trenker drauf. Und Janoschs Tigerente. Obwohl alles still ist, meint man, in Gedanken den Soundtrack der betreffenden Tage zu hören, das Geschrei ängstlicher Menschen, Explosionen und Jubelrufe.

Der größte Feind dieses Schatzes ist der Zahn der Zeit, er nagt ziemlich erbarmungslos an den Dingen, und ziehen kann man ihn natürlich auch an diesem Ort nicht. Immerhin: Man rechnet damit, dass die meisten Objekte in diesem künstlichen Klima bis zu 200 Jahre lagern können. Im Schlafsaal der Zeichen ruhen sich die Dinge für die Zukunft aus. Plötzlich begreift man, wie stark wir uns über Dinge definieren. Wie stark wir sie mit Erlebnissen und also Erinnerungen aufladen. Sie geben der Zeit eine Form, und durch ihre Vermittlung öffnen wir uns der Welt und der Vergangenheit.

Erinnerung spricht. In Bonn kann man zuhören.

(hols)
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