Umstrittene Therapie Wenn Mozart Kranke heilen soll

Hamburg/Göttingen (rpo). Wahrnehmungsstörungen, Kommunikationsprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten - Mediziner des Hamburger Tomatis Instituts behandeln kranke Kinder mit einer modernen Musiktherapie. "Sie verlassen unsere Einrichtung mit signifikanten Verbesserungen", betont Anstaltsleiter Kunze. Die Schulmedizin bleibt hingegen skeptisch.

Hamburg/Göttingen (rpo). Wahrnehmungsstörungen, Kommunikationsprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten - Mediziner des Hamburger Tomatis Instituts behandeln kranke Kinder mit einer modernen Musiktherapie. "Sie verlassen unsere Einrichtung mit signifikanten Verbesserungen", betont Anstaltsleiter Kunze. Die Schulmedizin bleibt hingegen skeptisch.

Der ehemalige Dirigent verabreicht seinen Patienten eine Hörkur, die auf den französischen Hals-Nasen-Ohren-Arzt Alfred A. Tomatis (1920-2001) zurückgeht. Der Mediziner beschäftigte sich intensiv mit dem Sinnesorgan Ohr und setzte es mit der psychischen und physischen Entwicklung sowie der Gesundheit des Menschen in Verbindung. Er beobachtete, dass die Hörqualität nicht nur durch äußere Überlastung, sondern zudem durch innere Wahrnehmungserfahrung in ihrer Entfaltung beeinträchtigt werden kann. Mithilfe dieser Erkenntnis entwickelte Tomatis eine Klangtherapie zur Rehabilitation von Hör-, Sprech- und Stimmstörungen beziehungsweise zur Förderung der Hörwahrnehmung.

"Wir machen keine Musiktherapie, sondern eine akustische Reizstimulation", beschreibt Kunze. Dabei werde das gesamte Wahrnehmungssystem systematisch angeregt. Vor jeder Therapie steht ein ausführliches Gespräch samt Hörwahrnehmungstest, woraus ein individueller Behandlungsplan erstellt wird. Anschließend werden dem Patienten über speziell für die Therapie entwickelte Kopfhörer zwei Stunden täglich gefilterte Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Gregorianische Choräle und die Stimme der eigenen Mutter vorgespielt. Der Patient erneut das Hörenlernen durchlaufen und körperlich, intellektuell und emotional gleichmäßig gefördert werden.

Das Training gliedert sich überwiegend in drei Blöcke. Der erste Abschnitt besteht in der Regel aus 15 Therapie-Tagen, gefolgt von einer drei- bis vierwöchigen Pause. Daran schließen sich weitere acht bis zehn Tage Therapie an, womit das Minimum erreicht ist. In schweren Fällen folgen etwa ein Vierteljahr später - nach dem Reifungsprozess - noch einmal acht bis zehn Tage Mozart und Co. Bei einem Preis von 43 Euro pro Therapiestunde im Hamburger Institut müssen Patienten mit einem Gesamtbetrag von bis zu 3000 Euro rechnen. Die Therapie der Mutter des zu behandelnden Kindes ist kostenfrei.

Weltweit 150 Standorte

"Hinweise auf eine erforderliche Anwendung sind, wenn Gleichgewichtsprobleme, motorische Auffälligkeiten und Irritationen im Hören oder Geräuschüberempfindlichkeiten vorliegen. Dann ist die Regulierung über das Ohr mit beeinträchtigt, wobei die Ursachen dafür nicht immer am Ohr liegen müssen", analysiert Kunze vom Tomatis-Institut, das weltweit etwa 150 Standorte hat und in Deutschland neben Hamburg auch in Berlin, Erfurt, München und Freiburg seine Dienste anbietet.

Bereits während der Therapie erkennt Kunze Reaktionsveränderungen an den Kindern: "Wir hatten ein sechs Monate altes Baby, das sich nicht drehte. Das waren erste Anzeichen für Gleichgewichtsstörungen. Das konnten wir beheben." Ein weiteres Kind sei durch die Therapie das erste Mal in einen Fahrstuhl gestiegen. Und wiederum ein anderes Kind litt an einer schweren Spastik, einer unwillkürlichen Reflexbewegung. Mittlerweile habe der Junge die drittbeste Handschrift in seiner Klasse.

Obwohl die Hörkur nach Angaben des Instituts bereits vielen Menschen geholfen habe, steht die Schulmedizin kritisch gegenüber. Professor Eberhard Kruse von der Georg-August-Universität Göttingen rät sogar gänzlich von der Therapie ab. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) hat gemeinsam mit zahlreichen Kollegen eine aktuelle Stellungnahme erarbeitet, in der es heißt: "Die von Tomatis vorgeschlagenen Techniken eines Hörtrainings entbehren einer sachlich begründeten, wissenschaftlich anerkannten Grundlage. Es wurden bisher keine Evaluationsstudien vorgelegt, die den notwendigen statistisch-wissenschaftlichen Anforderungen genügen würden."

Kunze entgegnet den Kritikern damit, dass signifikante Verbesserungen durch die Tomatis-Methode in etlichen Vorher-Nachher-Analysen über auditive Hörverarbeitungsstörungen belegt wurden. "Etwas anderes ist bei Entwicklungstherapien nicht nachzuweisen", erklärt Kunze, der nach eigenen Angaben auch bei Autisten, Legasthenikern, Tinnitus- und Schlaganfall-Patienten Fortschritte erreicht hat. Ohnehin sei die Therapie nicht nur für Kinder geeignet, sondern für Menschen jeden Alters. Eine Wirkung garantiert der Hamburger Institutsleiter jedoch nicht: "Ich spreche von Wahrscheinlichkeiten und aufgrund von Erfahrungen."

(afp)
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