Extreme Gewaltverbrechen "Sie wissen, was das Schlimmste für einen Menschen ist - und dann tun sie es"

Düsseldorf · Spektakuläre Kriminalfälle wie jener im sogenannten Horror-Haus von Höxter machen sprachlos: Wie werden Menschen zu solchen Tätern, und was geht in ihnen vor? Ein ehemaliger SEK-Ausbilder gibt Antworten.

Horror-Haus von Höxter: Angelika W. sagt vor Gericht aus
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Szenen aus dem Höxter-Prozess in Paderborn

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Foto: dpa, gki

Herr Lüdke, das Verfahren zu den Geschehnissen in Höxter wirft Erinnerungen etwa an die Entführung der Natascha Kampusch oder auch an das Schicksal von Elisabeth Fritzl auf. Sind sich Gewalttäter, die Serienmorde, Folter oder Vergewaltigungen von Kindern begehen denn darüber bewusst, was sie tun?

Lüdke: Absolut. Sie sind ja nicht in der Form psychisch krank, dass sie sich in Zeit und Raum nicht orientieren können.

Aber die Frage, inwiefern solche Verbrecher bewusst gehandelt haben, und somit, inwieweit sie schuldfähig sind, ist doch eine der meistdiskutierten Fragen vor Gericht.

Lüdke: Wenn der Täter also nicht gerade eine Psychose durchläuft, im Wahn oder völlig realitätsfremd ist, dann sind sich die meisten schweren Verbrecher sehr bewusst über das, was sie tun.

 Christian Lüdke ist Pädagoge und klinischer Hypnotherapeut. Er war zehn Jahre lang zuständig für die Psychologische Ausbildung des Sondereinsatzkommandos (SEK) bei der Fortbildungsstelle der Polizei in NRW. Sein Spezialgebiet: Einschätzung von Tätern in Extremsituationen wie etwa Geiselnahmen. Inzwischen ist er selbständig und arbeitet als Coach.

Christian Lüdke ist Pädagoge und klinischer Hypnotherapeut. Er war zehn Jahre lang zuständig für die Psychologische Ausbildung des Sondereinsatzkommandos (SEK) bei der Fortbildungsstelle der Polizei in NRW. Sein Spezialgebiet: Einschätzung von Tätern in Extremsituationen wie etwa Geiselnahmen. Inzwischen ist er selbständig und arbeitet als Coach.

Wilfried W. aus Höxter attestierte ein gerichtlicher Gutachter ein sadistische Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit einer stark ausgeprägten psychopathischen, außerdem eine schwere seelische Abartigkeit mit Anzeichen für sexuellen Sadismus. Wie klar kann jemand sein, der an all diesen Störungen leidet?

Lüdke: Täter, die so schwere psychische Störungen haben, haben ja trotzdem eine Bauernschläue. Sie können sich durchaus zeitlich und räumlich orientieren und können bei ihren Taten von verschiedenen Motiven getrieben werden, die vollkommen anders sind als bei gesunden Menschen. Psychische Störungen sind immer Beziehungsstörungen, oft über einen langen Zeitraum.

Das bedeutet, Serienmörder oder Verbrecher, die ihre Opfer lange in ihrer Gewalt haben, planen ihre Tat richtig?

Lüdke: Ja. Sie haben die Tat meist schon Hunderte Male in ihrer Fantasie durchgespielt und wissen deshalb genau, wie sie ablaufen soll. In der Realität lässt sich allerdings immer nur so weit planen, bis die Polizei ins Spiel kommt. Trotzdem, man darf die Täter nicht falsch einschätzen. Es gibt solche, die einen hohen Planungsgrad erreichen. Es hängt davon ab, welchen Tätertyp man vor sich hat.

Welche Typen gibt es denn?

Lüdke: Die schlimmste Kategorie sind die antisozialen Tätertypen. Früher hat man sie als Soziopathen oder Psychopathen bezeichnet. Die Reinform davon — auch wenn das eine Kunstfigur ist — ist Hannibal Lecter aus dem Film "Schweigen der Lämmer". Er ist unglaublich intelligent, aber in seiner Tat eiskalt, berechnend und durchtrieben. Ein reales Beispiel für einen solchen Täter ist Dieter Degowski aus dem Gladbecker Geiseldrama. Das sind eiskalte Reaktionsmaschinen ohne Gefühle. Sie wissen, was das Schlimmste ist, das ein Mensch sich vorstellen kann — und dann tun sie es auch. Sie kennen keine Reue und kein schlechtes Gewissen.

Ich wundere mich, dass Sie ausgerechnet Dieter Degowski als Beispiel nennen. Seine Taten passen für mich nicht zu dem Profil eines intelligenten und berechnenden Hannibal Lecters.

Lüdke: Degowski ist wie Hannibal Lecter ein Täter mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur: Diese Störung, ist gekennzeichnet durch die grundsätzliche Verletzung der Rechte anderer. Der Antisoziale hat schon frühzeitig den gesellschaftlichen Konsens von Ethik verlassen, um sein Streben nach Macht zu verfolgen. Sein Weltbild ist durch drei Ideen bestimmt: Ich weiß als einziger, wie die Welt funktioniert. Ich will Macht und Kontrolle und mir ist jedes Mittel recht. Diese Persönlichkeitsstörung beinhaltet also auch den Aspekt eigener Grandiosität. Der Antisoziale versteht es außerdem, sein Verhalten dem Zweck unterzuordnen. Abhängig von Intelligenz und sozialer Erfahrung kann er Rollen überzeugend spielen und Gefühle simulieren.

Woher kommt diese Brutalität und Kälte?

Lüdke: Das hat mehrere Gründe. Einer ist, dass sie meist nach einem inneren Drehbuch handeln, das besagt: "Wenn ich schon nicht geliebt werde, dann will ich wenigstens gehasst werden, und zwar mit der gleichen Intensität."

Das klingt, als ob der wahre Ursprung in der Biografie der Täter steckt.

Lüdke: Genau das ist der zweite Grund und eine Erkenntnis, über die viel diskutiert und geforscht wird. "Natural Born Killers" heißt ein amerikanischer Film und wirft damit die Frage auf, ob man als Mörder geboren wird - oder, ob man dazu gemacht wird. Die Wissenschaft antwortet darauf eindeutig, dass niemand als Mörder auf die Welt kommt. Es gibt dafür kein Gen und keine Veranlagung. Es ist der Abschluss einer langen, gestörten Persönlichkeitsentwicklung. Das gilt für Mörder genauso wie für Sexualstraftäter.

Die Geiselnahme von Gladbeck
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Das Geiseldrama von Gladbeck

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Foto: dpa

Gilt das auch für Menschen, die andere im Affekt erschlagen, zum Beispiel innerhalb einer Beziehung?

Lüdke: Wer andere Menschen im Affekt erschlägt, hat in dem Moment eine Impulskontrollstörung und befindet sich während der Tat ebenso in einer psychischen Ausnahmesituation.

Und was ist mit Pädophilen?

Lüdke: Auch hier wirken vergleichbare Prozesse, die ihren Ursprung oft in der Kernfamilie haben.

Können Sie das näher erklären?

Lüdke: In unserer Kindheit brauchen wir mindestens eine starke Bindungsperson. Durch die Schwangerschaft bedingt, ist das in der Regel die Bindung zur Mutter. Wir sind als Kinder bis zum dritten Lebensjahr quasi eins mit ihr. Erst mit drei oder vier Jahren beginnen wir, uns von der Mutter abzulösen. In der Psychologie nennt man das "Ich-Entwicklung". Sprachlich ist das der Zeitpunkt, an dem das Kind von sich selbst nicht mehr mit dem eigenen Namen spricht, sondern beginnt, "ich" zu sagen. Ab dann versteht es: ich bin ich und hier beginnt der andere.

Und wie entstehen hier Störungen?

Lüdke: Das beginnt oft schon in der Schwangerschaft. Etwa, weil die Mutter das Gefühl hat, sie will das Kind nicht, es als Störfaktor erlebt, und folglich keine liebevolle Beziehung zu dem Kind hat. Und wenn es dann auf die Welt kommt, ist es auch noch laut, schreit und hat Bedürfnisse. Aus dieser Überforderung entsteht eine Vernachlässigung der Kinder.

Das klingt, als wären ausschließlich die Mütter verantwortlich, wenn ein Kind später zum Verbrecher wird.

Lüdke: Nein, natürlich nicht. Mütter legen in den ersten drei Lebensjahren des Kindes die Grundlage für eine starke emotionale Bindung. Sie geben ihm das Gefühl der Geborgenheit und Zugehörigkeit. Bestenfalls bekommen die Kinder eine sehr tragfähige Grundlage für ihr Leben. Aber selbst wenn das nicht so ist, spielen weitere Entwicklungen und Menschen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel während der Pubertät. Geraten sonst stabile Jugendliche in der Pubertät an andere Jugendliche mit erhöhter krimineller Energie, können sie sehr schnell infiziert werden. Wer zum Täter wird, durchläuft einen jahrelangen Prozess von oft gestörten Beziehungen.

Der Fall Höxter – eine Chronologie der Gewalt
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Foto: dpa, mku gfh

Aber die Hauptursache ist schwere Vernachlässigung?

Lüdke: Ja, denn dann fühlen sich die Kinder von Anfang an nicht geliebt und nicht wahrgenommen. Und wenn Kinder dieses Gefühl haben, beginnen sie mit abweichendem Verhalten auf sich aufmerksam zu machen. Sie lassen die Gabel x-mal fallen, klauen, gehen nicht in die Schule, entwickeln Essstörungen, laufen von zuhause weg und so weiter. So erzeugen sie einen Moment, in dem sie von den Eltern wahrgenommen werden müssen. Das Verhalten intensiviert sich und wird zu kriminellem Verhalten, dass andere zwingt, sie anzuerkennen. Für die Täter fühlt sich das an wie eine Bestätigung. Natürlich wollen sie den Erfolg immer wieder spüren.

Dieses Verhalten schleift sich also über Jahre ein.

Lüdke: Man bezeichnet das auch als erlernte Hilflosigkeit. Weil die Kinder schon sehr früh ein starkes Ohnmachtsgefühl haben. Sie können ja nichts gegen diese Situation tun. Später verkehren sie dieses Gefühl in ihren kriminellen Taten zu einem kurzfristigen Erleben von Allmacht. Das kann bedeuten, eine Scheibe einzuschlagen, eine Wand mit Graffiti zu besprühen, jemanden zu schlagen oder sogar zu vergewaltigen. Im schlimmsten Fall geht es so weit, dass sie das Gefühl haben wollen, Herr über Leben und Tod zu sein. Wie es etwa im Fall von Priklopil war, der Natascha Kampusch entführt hat, oder bei Josef Fritzl, der seine Tochter und die gemeinsamen Kinder im Keller eingesperrt hatte.

Aber gerade wenn sich so ein Verhalten über Jahre aufbaut, müsste die Außenwelt doch etwas davon mitbekommen. Wenn man die Berichte liest, wird aber immer beschrieben, dass die Täter nach außen freundlich, zuvorkommend, vielleicht sogar zurückhaltend wirken.

Lüdke: Das liegt daran, dass sie dieses Verhalten schon in der Kindheit gelernt haben. Sie haben ein Traumaschema gelernt, das sie bei ihren späteren Taten oft genau wiederholen, und sie haben ein Doppelleben entwickelt, um das Gefühl der eigenen Ohnmacht auszuhalten. Dazu kommt, dass sie kein Unrechtsbewusstsein haben. Sie externalisieren ihren tiefsten inneren Konflikt. Bei Serientätern sind ihre Taten oft nichts anderes, als der paradoxe Versuch einer Eigentherapie. Sie töten, um sich dadurch selbst zu behandeln. Das funktioniert natürlich nicht.

Fühlen sich Gewalttäter denn durch ihre Verbrechen auch innerlich stark?

Lüdke: Nein, das ist ja das Problem. Man kann sagen, je aggressiver ein Mensch ist und je größer seine Allmachtsfantasien, umso größer ist die Angst und Ohnmacht, die er ein Leben lang in sich trägt.

Es muss doch aber Anzeichen in der Pubertät geben, die darauf hinweisen, dass bei diesem Menschen etwas im Argen liegt.

Lüdke: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass bei späteren Tätern meistens um das 11. oder 12. Lebensjahr drei Symptome auftreten: Sie machen als Jugendliche plötzlich wieder ins Bett, sie zündeln und sie quälen Tiere wirklich brutal. Wenn diese drei Symptome zusammenkommen, besteht eine in einzelnen Fällen erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass daraus später Täter werden. Wenn dann noch zwanghaftes Onanieren hinzu kommt, dann besteht die Gefahr, dass daraus ein Sexualstraftäter wird, weil sich sexuelle Erregung und Gewaltfantasien koppeln.

Es gibt Studien, die zeigen, dass zwanghaftes Onanieren dazu führen kann, dass ein Jugendlicher später ein Vergewaltiger wird?

Lüdke: Nicht zwanghaftes Onanieren allein führt dazu, sondern wenn sich der Jugendliche bei seiner sexuellen Stimulierung keine erotischen Bilder vorstellt, sondern Gewaltszenarien. Zum Beispiel wie es ist, einen Menschen zu würgen, zu strangulieren oder ihm Schmerzen zuzufügen. Das Gefährliche ist, dass in diesem Augenblick die sexuelle Erregung mit der Gewaltfantasie verschmilzt und später dann sexuelle Befriedigung auch nur durch Gewaltausübung erlangt werden kann.

Wie kann man Menschen mit Anlagen zu schweren Gewaltverbrechern therapieren?

Lüdke: Tatsächlich ist das zumindest später fast nicht mehr therapierbar. Und das gilt meiner Meinung nach für die allermeisten Fälle. Gefängnisse sind keine therapeutischen Einrichtungen. Denn die Täter sind dort isoliert und oft nur unter Männern. Dann kommen sie aus dem Knast, waren sechs Jahre hinter Gittern und sehen zum ersten Mal wieder eine Frau oder ein Kind — natürlich können sie da sehr schnell wieder in Tatstimmung kommen. Und zum anderen kann man niemanden resozialisieren, der nie eine Sozialisierung erfahren hat. Wer schon innerhalb der eigenen Familie nie Regeln und Werte wie Respekt gelernt hat, wird diese erst Recht nicht im Knast lernen. Wie gesagt, ich halte sehr viele Täter für nicht therapierbar.

Was macht man dann mit Ihnen?

Lüdke: In den schlimmsten Fällen hilft es meiner Meinung nach nur, gefährliche Straftäter zum Schutz der Öffentlichkeit in den Maßregelvollzug oder in Sicherungsverwahrung zu nehmen.

Wir haben jetzt nur über den antisozialen Tätertypen gesprochen. Hat das einen Grund?

Lüdke: Vermutlich ist es die Faszination des Abscheulichen, die von diesen Tätern ausgeht.

Welche anderen Typen gibt es?

Lüdke: Insgesamt sprechen wir von vier Tätertypen: Der narzisstisch-depressive Täter, der paranoid-schizophrene, der zwanghafte und eben der antisoziale. Sie unterscheiden sich in verschiedenen Grundmerkmalen und darin, wie aggressiv sie mit den Opfern umgehen.

Und kann man diesen Typen bestimmte Taten zuordnen?

Lüdke: Nein. Seine Handschrift verrät der Täter am Tatort, aber man kann nicht sagen, dass ein Typus immer bestimmte Taten begeht.

Was unterscheidet die Typen dann?

Lüdke: Man kann das Tatverhalten einem Täter-Typ zuordnen. Man kann einen antisozialen Täter haben, der aber keine Menschen umbringt, sondern ein unglaublich gewiefter Betrüger ist. Es gibt ein Buch, das heißt: "Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann". Der Autor beschreibt darin eine Studie, in der er zeigen konnte, dass es zum Beispiel Top-Manager gibt, die genauso in der Lage sind, eiskalt Entscheidungen zu treffen, wie man das sonst Serienmördern zuschreiben würde. Entscheidungen, bei denen jeder denkt: "Das könnte ich nie im Leben machen". Aber genau deswegen sind sie so gut in ihrem Job. Man kann also nicht sagen, wie sich ein Tätertyp im Leben ausdrücken wird.

Erkennen Serienmörder oder Verbrecher, die ihre Opfer über Jahre gefangen gehalten haben, dass sie Unrecht getan haben?

Lüdke: Die Täter wissen im Grunde immer, dass das, was sie tun, unrecht ist. Und sie wissen auch, dass sie irgendwann geschnappt werden. Manche versuchen dann das Machtspiel mit Polizei und Justiz fortzuführen. Sie führen die Behörden in die Irre oder behaupten, sie sagen aus, und tun es doch nicht. Aber Einsicht in ihr Tatverhalten oder Reue setzt in der Regel nicht ein. Oft empfinden sie bei der Tatausführung nur das Gefühl einer inneren Leere.

Das Gespräch führte Susanne Hamann.

(ham)
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