Chinas neue Mittelschicht Auf Chinas Mitte ruhen alle Hoffnungen

Die neue Mittelschicht soll ihr Leben weiter verbessern und dabei das ganze Land voranbringen. Nach westlicher Demokratie sehnen sich ihre Angehörigen nicht. Noch nicht.

 Emily lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Shanghai.

Emily lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Shanghai.

Foto: Tim Franco

Sie haben studiert, leben in Eigentumswohnungen mit Ikea-Möbeln, besitzen ein Auto, und einmal im Jahr ist eine Auslandsreise drin: In Chinas Metropolen ist eine Generation herangewachsen, die die Armut nicht mehr erlebt hat, die noch das Leben ihrer Eltern prägte.

Der Wandel hat sich so schnell vollzogen, dass der neue Wohlstand die Alten manchmal ganz fassungslos macht. "Es gibt da eine gewisse Distanz zwischen uns", gibt Emily zu. Die ausgebildete Designerin lebt in Shanghai in einer 80-Quadratmeter-Wohnung mit moderner Einbauküche.

Ihre Eltern fänden, dass sie zu viel Geld für Kleidung und modische Accessoires ausgebe, sagt Emily. Aber die junge Frau kann es sich leisten. Ihr Gehalt hat sich verdreifacht, seit sie nach dem Studium angefangen hat zu arbeiten. Auch ihr Mann, ein Ingenieur, den Emily 2011 geheiratet hat, verdient sehr gut. Mit einem monatlichen Haushaltseinkommen von rund 4000 Euro kann die Familie komfortabel leben, selbst im teuren Shanghai.

Emily konnte es sich Anfang des Jahres sogar erlauben, ihre Stelle zu kündigen, um sich um ihr zweites Kind zu kümmern, das sie vor kurzem zur Welt gebracht hat. Im Herbst will sie sich nach einem neuen Job umschauen. Fachkräfte wie sie müssen sich da bisher keine Sorgen machen.

Emily gehört zu Chinas neuer Mittelschicht. Menschen, deren größte Alltagssorge nicht mehr die tägliche Ration Reis ist, sondern ihre Lebensqualität. Wie groß diese Wohlstandsgeneration ist, wie schnell sie wächst, was sie tut und was sie sich wünscht, das wird freilich heiß diskutiert. Klar ist nur, dass es sich um ein urbanes Phänomen handelt. Die Wohlstandsexplosion hat in den Städten stattgefunden, die ländlichen Provinzen bleiben weit abgeschlagen.

Immerhin: Nach Berechnungen der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften gehören heute gut 300 Millionen Chinesen, also rund ein Fünftel der Bevölkerung, zur Mittelschicht. Als Messlatte gilt ein Vermögen von rund 15 000 bis 30 000 Euro pro Familie. Das staatliche Statistikbüro ist dagegen weit vorsichtiger und rechnet weniger als zehn Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht.

Der Zahlenstreit hat einen ernsten Hintergrund: Auf Chinas neuer Mitte ruhen gewaltige Erwartungen. Die Mittelschicht war bisher schon eine wichtige Triebfeder des chinesischen Booms. Künftig soll sie nach dem Willen der Führung in Peking den Umbau der chinesischen Wirtschaft durch ihren Konsum ganz wesentlich stützen. Davon, dass diese Schicht sich möglichst schnell verbreitert, hängt sehr viel ab — für alle Chinesen.

Chinas Sozialaufsteiger haben freilich auch ihre Sorgen. Weil die Mieten in Städten wie Peking oder Shanghai selbst für Gutverdiener praktisch unerschwinglich worden sind, versuchen die meisten, eine Wohnung zu kaufen und müssen sich dafür hoch verschulden. "Viele aus meiner Generation haben gekauft, als die Preise schon durch die Decke gingen", sagt Li Song. Der 32-jährige Firmenberater lebt ebenfalls in Shanghai, wo man die hochverschuldeten Eigentümer die "Immobilien-Sklaven" nennt.

 Li Song berät chinesische Unternehmen bei Auslandsaktivitäten.

Li Song berät chinesische Unternehmen bei Auslandsaktivitäten.

Foto: Tim Franco

Nach Abzug der Kreditraten und laufender Kosten bleibt ihnen nicht mehr sehr viel übrig von ihren guten Gehältern. Zumal eine chinesische Mittelschicht-Familie mit erheblichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit rechnen muss. Zwar ist beides im kommunistischen China offiziell gratis. Aber die besseren Schulen kosten unter der Hand Aufnahmegebühren, und auch im Krankenhaus hat man besser den "Hongbao" dabei, den roten Umschlag, in dem das Bestechungsgeld für die Ärzte steckt. Es sind diese ganz konkreten Nöte des Alltags, die Chinas neue Mittelschicht beschäftigen.

Ihre Angehörigen wünschen sich sicherlich mehr individuelle Freiheiten, aber Demokratie einzufordern käme ihnen kaum in den Sinn. Die meisten wollen keine völlig andere Regierung, nur eine bessere. Zwar mehren sich in China die laustarken Proteste, vor allem gegen die dramatische Umweltzerstörung, riskante industrielle Großprojekte oder haarsträubende Nahrungsmittelskandale. Aber dahinter steckt eher die Sorge um die eigene Lebensqualität als die Ablehnung eines Systems, von dem die meisten Mittelschicht-Chinesen profitiert haben.

Viele der heute 30- bis 40-Jährigen haben Eltern, die aus dem Staatsapparat kommen oder sogar Parteimitglieder sind. Die KP, der rund 80 Millionen Chinesen angehören, hat ihren sozialen Aufstieg organisiert. Das verbindet. Das Potenzial für wachsenden Unmut ist jedoch vorhanden. Die Ansprüche von rund 300 Millionen Chinesen an ihre Führung sind enorm gewachsen, und die kann häufig keine Lösungen anbieten.

Der jüngste Börsencrash, bei dem Millionen Chinesen aus der Mittelschicht im Vertrauen auf die Versprechungen der Regierung viel Geld verloren haben, hat Zweifel am Kurs der Partei genährt. Sorgen über ein mögliches Ende des chinesischen Wirtschaftswunders kommen hinzu. Sie nähren die Zukunftsängste einer Generation, für die es bisher im sozialen Aufzug immer nur nach oben ging.

In den sozialen Medien, die die Mittelschicht intensiv nutzt, artikuliert sich der aufgestaute Frust. Da wird über die moralische Leere geklagt, die das Land erfasst habe. An den Kommunismus glaubt so recht keiner mehr und an die Allmacht der Partei erst recht nicht. Aber an was dann?

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