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Duisburg Eine Lehrerin auf Reisen

Duisburg · Astrid Niermann ist Leiterin der Astrid-Lindgren-Schule in Duissern. Ihr Weg dort hin war alles andere als typisch. Die 46-Jährige begann ihre Karriere als Lehrerin von Schaustellerkindern - und war dementsprechend viel unterwegs.

 Astrid Niermann liebt ihre Arbeit in Duisburg. Aber ihre "Reisezeit" wird sie wohl nie vergessen.

Astrid Niermann liebt ihre Arbeit in Duisburg. Aber ihre "Reisezeit" wird sie wohl nie vergessen.

Foto: ReicHWEIN

Wenn Astrid Niermann an ihrem Schreibtisch sitzt, kommt es schon mal vor, dass sie die vier kleinen Bilder an der Wand gegenüber betrachtet und an früher denkt. Eines der Bilder zeigt den Ausschnitt eines Kettenkarussells, ein anderes das Dach eines Zirkuszeltes. Niermann, die seit 2013 Schulleiterin der Astrid-Lindgren-Schule in Duissern ist, hat ihre ersten Schritte ins Berufsleben auf Reisen gemacht. Die 46-Jährige hat Schaustellerkinder unterrichtet und ist mit ihnen durch ganz Deutschland gereist.

In Niermanns Fall kann man von einer schicksalhaften Begegnung sprechen, auf der schließlich große Teile ihres Lebens und Wirkens, ihres Weges und ihres Engagements aufgebaut haben. Kurz nach dem Referendariat, als es einen Einstellungsstopp an den Schulen gab und Niermann eine sinnvolle Beschäftigung suchte - das Kellnern hatte sie über, "das habe ich schließlich schon im Studium genug gemacht", sagt die 46-Jährige, - traf sie einen Seelsorger für Schausteller. "Er hat sich auch sehr für die schulischen Belange der Kinder eingesetzt", erinnert sich Niermann. Durch ihn erfuhr die damals 26-Jährige, dass Schausteller immer wieder auf der Suche waren nach mitreisenden Lehrern. In einer Fachzeitschrift für Schausteller habe sie daraufhin eine Anzeige aufgegeben. Mehrere Familien meldeten sich. Und während eine Studien-Freundin Niermanns unbedingt mit einem Zirkus mitreisen wollte, war es ihr wichtiger, dass es menschlich gut passte. Sie fing schließlich bei einer Familie mit zwei Kindern an, von denen zunächst nur eins unterrichtet werden sollte. Geplant war ein halbes Jahr, geworden sind daraus zweieinhalb.

Mit einer Schaustellerfamilie mitzureisen geht nicht so ohne Weiteres. "Die Familie muss sich genehmigen lassen, dass sie eine ausgebildete Lehrkraft dabei hat", erklärt Niermann. In ihrem Fall hat die Schulaufsichtsbehörde die Genehmigung erteilt und fortan ist Niermann mit einem kleinen Camper fürs Private und einer Großgeisterbahn von Fest zu Fest quer durchs Land gereist. Im eigens für den Unterricht geschaffenen Container saßen dann nicht selten auch andere Schausteller-Kinder, die Niermann unterrichtet hat. Aber nicht nur im Container fand der Unterricht statt. "Die Themen lagen ja vor der Haustür. Als wir beispielsweise in Itzehoe waren, wo es eine Seehundstation gab, wurde der Unterricht danach ausgerichtet, Mathe- und Deutschaufgaben oder andere Fächer mit dieser Thematik veranschaulicht." Im Erzgebirge war es das Bergwerk.

Man sei viel freier, arbeite Fächerübergreifender und immer wieder gebe es neue Themen und Wege, Unterricht zu gestalten und Inhalte zu vermitteln. Manchmal sei die Gefahr da natürlich groß, dass sich Privates mit Schulischem vermische, etwa wenn Sportunterricht im Schwimmbad oder auf der nahegelegenen Fußballwiese stattfinde. Oder wenn man als Lehrerin gemeinsam mit der Familie am Tisch sitze und esse. Das mache es natürlich schwieriger, eine Abgrenzung zu schaffen. Aus diesem Grund habe sich Niermann in Einklang mit der Familie entschieden, das "Sie" als Ansprache zu pflegen. Fremd habe sich Niermann trotzdem nie gefühlt. "Ich habe es mir heimisch gemacht und eine Sozialstruktur für diese Zeit geschaffen." So sei sie an jedem Ort immer gleich los, habe sich umgeschaut, etwa wo der nächste Bäcker ist. Heimweh hatte sie nicht. "Ich reise grundsätzlich gerne und kann mich gut eingewöhnen", sagt die 46-Jährige. Bei aller beabsichtigten Distanz wachse man aber trotzdem eng mit der Familie und auch den vielen Angestellten zusammen, die täglich mit einem unterwegs sind. Ab und an, um sich für die unterrichtslose Winterzeit, in der die Kinder die Schule in ihrer Heimat besuchten, etwas Geld zu verdienen, hat Niermann auch an der Kasse der Geisterbahn oder eines anderen Fahrgeschäfts ausgeholfen. Der Schaustelleralltag war also auch Teil ihres Lebens.

Umso wichtiger war es dann auch, nach zweieinhalb Jahren den Absprung zu schaffen. "Das war wirklich nicht einfach", sagt sie. Aber irgendwann musste es sein, "sonst wäre man vermutlich nie losgekommen".

Die Thematik, wie reisende Kinder besser unterrichtet werden können, hat Niermann aber nie mehr losgelassen. "Die Zeit war nicht nur unglaublich spannend und lehrreich, sie hat mir auch gezeigt, man muss für diese Kinder etwas tun." Jedes Kind habe das Recht auf Bildung, also müsse man "diesem Recht auch gerecht werden", sagt Niermann. Darum hat sie sich im Anschluss an ihre Reisetätigkeit weiter engagiert. In anderer Form war Niermann weiterhin für reisende Kinder da, - als Bereichslehrerin. "Zunächst sechs, später vierzehn Stunden von meiner Unterrichtsverpflichtung an einer regulären Schule waren dafür gedacht, Kinder zu betreuen, die unterwegs waren." Dazu zählte unter anderem die Betreuung in Winterquartieren, wie auch Hilfe bei der Anmeldung in Schulen, die die Kids nur kurzzeitig auf der Durchreise besuchten. Ihre Tätigkeit hat sich immer weiterentwickelt. Niermann hat gemeinsam mit anderen, die sich für das Bildungsrecht reisender Kinder einsetzen, Tagungen organisiert und daran mitgewirkt, dass das Lernen für reisende Schüler einfacher wurde.

Seitdem sie Rektorin an der Astrid-Lindgren-Schule ist, fehlt ihr die Zeit, um sich genauso intensiv wie früher um ihre Herzensangelegenheit zu kümmern. "Wenn die Zeit da ist, helfe ich gern, aber ich habe weniger Ressourcen übrig und kann nur noch ehrenamtlich ein bisschen machen." Das sei schade, aber Niermann liebe auch ihre Arbeit in Duisburg. Vergessen wird sie ihre Zeit auf Reisen nie, am Ende hat sie ja auch immer noch ihre vier Bilder im Schulbüro, die sie an die aufregende Zeit erinnern.

(RP)
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