Geldern Die Abgehängten

Geldern · In einer Reihe werden hier bis Weihnachten Menschen vorgestellt, die am Rand der Gesellschaft angekommen sind. Nur wenige der Hilfesuchenden schaffen den Weg zurück in geordnete Verhältnisse. Einige wollen es auch gar nicht mehr.

"Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Jesaja 58, 7

Das Ambiente präsentiert sich einladend. Der moderne Anbau hinter dem historischen Haus ist lichtdurchflutet, die Scheiben reichen bis zum Boden, unter dem Stäbchenparkett wärmt eine Fußbodenheizung. Täglich lädt der Caritasverband Kleve zu einem sogenannten "niederschwelligen Angebot" in das Kontaktcafé ander Hoffmannallee in Klebe ein. Hilfesuchende haben hier die Möglichkeit, für einen Euro ausgiebig zu frühstücken.

Je kälter es draußen ist, desto mehr Plätze sind besetzt. Wer hier sitzt, will essen - sich aber auch aufwärmen. Denn für etliche Gäste sind Orte wie dieser die einzige Möglichkeit, zumindest ein paar Stunden der Kälte zu entkommen. Sie füllen das Café ebenso regelmäßig, wie es Winter wird. Obdachlose, Drogenabhängige, Kranke, Hartz-IV-Empfänger, Einsame - hier trifft sich eine Gruppe, die teilweise resigniert hat.

Gerd Engler (62) kennt die Menschen, die bereits früh vor dem Wintergarten der Caritas stehen. Seit 37 Jahren arbeitet der Diplom-Sozialarbeiter bei dem Wohlfahrtsverband. Sein Fachbereich ist soziale Hilfen und Existenzsicherung. "Die Zahl der Hilfesuchenden steigt", sagt Engler. Dafür sorgen aber nicht allein die Bedürftigen, die ganz unten angekommen sind. Es ist eine Schicht dazugekommen. Sie lebt Großteils in geordneten Verhältnissen, ist finanziell jedoch abgehängt worden. "Diese Gruppe kann sich eine Wohnung oder warmes Wasser leisten, eben das Notwendigste. Für alles darüber hinaus fehlt das Geld. Es sind Menschen, die zum unteren Teil der vielzitierten Schere gehören, die unsere Gesellschaft weiter spaltet", erklärt der Sozialarbeiter. Als Beispiele nennt er Rentner und geringfügig Beschäftigte, die ihren Lebensunterhalt nicht durch ihr Einkommen sichern können und auf Hilfen angewiesen sind. "Diese Bedürftigen nehmen am sozialen Leben nicht teil. Kino, Theater oder Sportveranstaltungen können sie sich nicht leisten", sagt Engler.

In den Kreis Klever Hilfsstationen ist abzulesen, in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickelt. So sind es etwa in der Klosterpforte an der Klever Unterstadtkirche viele Stammgäste, die für einen guten Besuch sorgen. Die Tatsache, dass hier immer wieder dieselben Gesichter auftauchen, weist darauf hin, dass die Gesellschaft an Durchlässigkeit verloren hat. Wer einmal unten angekommen ist, kommt nur schwer wieder hoch.

Elke Lehnen (62) leitet den Treffpunkt für Obdachlose seit 24 Jahren. "Die Situation ist für Bedürftige schwieriger geworden. Wer einmal durchs Raster gefallen ist, kommt nur wieder hoch, wenn er Hilfe erfährt", sagt sie. Die veränderten gesetzlichen Vorgaben würden die Arbeit ständig erschweren. Auffällig sei auch, dass sich der gesundheitliche Zustand der Menschen ständig verschlechtere, so Lehnen.

Dass Essen verbindet, wird auch in der Klosterpforte offenbar. Für einen Euro gibt es eine warme Mahlzeit. In einer Liste wird nachgehalten, wer gezahlt hat. Simon (54) kramt in seiner Tasche und holt mit Mühe 40 Cent heraus. Er darf mitessen. Dafür spült er anschließend. Er zählt zu der Gruppe, die nicht mehr daran glaubt, Arbeit zu finden. Die Bänke und Stühle in der Pforte sind durch die 30 Gäste lückenlos besetzt.

Die Hilfesuchenden kommen auch deshalb, weil sie hier Menschen auf Augenhöhe begegnen. Nach der Mahlzeit stehen sie zusammen auf dem Kirchplatz und rauchen. Ein paar Stunden später hat sich der Treffpunkt vor den Bahnhof verlagert. In einem umzäunten Karree wird Billigbier getrunken. Blickdichte Plastikplanen sorgen dafür, dass die Menschen nicht gesehen werden. Sie sollen möglichst unsichtbar sein. Wer hier steht, dem geht es darum, den Tag hinter sich zu bringen. Die Lebensläufe unterscheiden sich völlig, gemeinsam ist allein ihr Schicksal.

Dass in Kleve nur die Menschen auf der Straße leben, die es selbst nicht anders wollen, liegt an den unbürokratischen städtischen Regelungen. Ordnungsamtleiter Ralph van Hoof hat stets ein Zimmer für Menschen, die nicht wissen wohin. "Es wäre eine Schande, wenn die Hilfesuchenden alleine gelassen würden. Besonders bei der kalten Witterung. Die Folgen können katastrophal sein", sagt van Hoof.

Für die Gruppe der Wohnungslosen, von denen van Hoof derzeit in Kleve etwa 32 unterbringt, ist das Petrusheim in Weeze-Well eine der ersten Adressen am unteren Niederrhein. Mit 93 Obdachlosen, die aktuell in der Einrichtung untergebracht sind, ist das Heim "ausgebucht". Sie bleiben entweder einige Wochen oder Monate bis hin zu Jahren. "Wir spüren deutlich, dass die Wohnungslosigkeit steigt", sagt Diplom-Sozialpädagogin Katrin Geraths (33), die im Petrusheim arbeitet. Freie Plätze gibt es hier keine, denn es sind immer mehr Menschen auf der Suche nach einer Unterkunft. Der Grund dafür ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt. "Jeder Vermieter kann sich unter etlichen Bewerbern einen aussuchen. Da haben Bedürftige keine Chance. Den sozialen Wohnungsbau gibt es kaum noch, so dass wir diese Gruppe auffangen müssen", sagt Geraths.

Nicht selten steht die Obdachlosigkeit im Zusammenhang mit einer Suchtproblematik. So wird auch Alkohol- und Drogenabhängigen im Petrusheim geholfen. Es sind die Menschen, die gesellschaftlich im Abseits stehen, auf der Verliererseite. Sie sind vom Staat alleingelassen und gehören zu den Abgehängten. Wenn sie in der Fußgängerzone sitzen oder auf dem Supermarktparkplatz den Einkaufswagen zurückbringen wollen, werden sie kaum wahrgenommen. Im Alltag schaut man lieber an ihnen vorbei.

(jan)
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