Solingen Im Meer des unendlichen Raums

Solingen · Taschenopernfestival gastierte im Pina-Bausch-Saal: Noch nie war der Gesang der Sirenen so betörend modern.

 Szene aus "Sirenen" des Taschenopernfestivals Salzburg. Die Produktion der fünf Kurzopern war jetzt im Pina-Bausch-Saal zu sehen.

Szene aus "Sirenen" des Taschenopernfestivals Salzburg. Die Produktion der fünf Kurzopern war jetzt im Pina-Bausch-Saal zu sehen.

Foto: Stephan Köhlen

Christian Brückner hatte die Stimmenvielfalt der Sirenenepisode aus Joyces "Ulysses" auf die Magie eines Sprechers zentriert. Das Taschenopernfestival "Sirenen", eine Produktion von Klang 21 und Ensemble Garage in Kooperation mit dem Theater- und Konzerthaus Solingen, löste diesen festen Boden wieder auf: in das Meer des unendlichen Raums. Es gab eine terrassenartig breite, nach oben führende, in deren Mitte von schmalen Stufen durchbrochene Treppe - davor die leere Bühne, an den Seiten ins Publikum führende Stege. Links zur Wand das Kammerorchester (Leitung: Mariano Chiacchiarini), rechts der Chor.

Zwei Stunden lang agierten zu Funktionen degradierte Charaktere: virtuell, mechanisch, surreal, künstlich. Glitzernde Bardamen, Herren in weißen Anzügen, ein Kellner in Livree und andere "Erscheinungen" demonstrierten die Unmöglichkeit einer Kommunikation. Was sie dafür entwickelten und den Zuschauern im Pina-Bausch-Saal in fünf atonalen, kompakt inszenierten Kurzopern von Brigitta Muntendorf, Wen Liu, Sarah Nemtsov und Ann Cleare eröffneten, war eine neue Form der Ästhetik - und die war brutal modern. Die Leitung hatten Thierry Bruehl und Brigitta Muntendorf. Tolle Akzente setzte der neunköpfige Chor der Städtischen Musikschule, dessen Part Leiter Ulrich Eick-Kerssenbrock einstudiert hatte.

Leichter Tobak war es nicht. Schon nach zwei Nummern verließen einige Zuschauer den Saal. Die anderen ließen sich mitreißen von der Kompromisslosigkeit des Ganzen. Hier wollte man nicht einen vorhandenen Text "umsetzen", sondern weiterentwickeln, neue Ebenen schaffen. So wurde Joyces Sirenenepisode zum Meta-Text. Der, fragmentiert zitiert und gesungen, zum Dynamo der Vorstellung avancierte, Musik und Bewegung verschmelzen ließ, aber auch das moderne Leben aufzeigte, das durch Beziehungs- und Kommunikationsstörungen und wachsende Isolation gekennzeichnet ist. Selten gingen die Figuren aufeinander zu, wirkten isoliert, standen "für sich", blickten ins Leere. In "Rinn" (Regie: Thierry Bruehl) weicht der kauernde Mann (Klaus Nicola Holderbaum) den hinter ihm stehenden Sirenen aus: "All is lost now", säuseln sie, er hält sich die Ohren zu. Rauch steigt auf. Klangcluster. Wind, Nebelhorn, verfremdete off-Stimmen. Eine Szenerie von Verlockung, Versagung, Verfremdung - Ausdruckskunst pur.

"Bronce by Gold" seziert den Text, lässt ihn singen, eröffnet den vielstimmigen Dialog mit dem Orchester. "Aber den Spaß haben immer nur die..." vervielfacht sich in den Raum, mündet in die von tollen Sopranstimmen (herausragend: Annika Boos) flankierten Reden der Conferenciers. Auch der Chor setzt Akzente, ironisch gebrochen, als fragmentiertes Echo der Antike. Dann erscheint das Schaukelpferd - als groteskes Bild zur Ware kastrierter Erotik. Das Weib reitet, man darf zuschauen. Wer mehr will, muss nachwerfen. Eine harte Symbolik, ein Highlight des Abends.

In "The End of The Song" ist Bloom (überzeugend: Manuel Millonigg) Gefangener seiner Selbst. Ein "Ulysses"-Schild hängt ihm um den Hals, um in "Defekt" eins zu werden mit der zerbrochenen, auf die Leinwand projizierte Büste - getragen vom Free Jazz spielenden Ensemble. "Missing Jagoda" ist das Finale: Tapp Tapp Tapp sagt der blinde Klavierstimmer. Tappblind, so Bronze bei Gold, ging tappelnd ein Blinder am Bordstein. Riesenapplaus für die schräge Show. Das war Mega-Avantgarde: Hochprofessionell, brillante Bilder, Top-Musik, alle Gesangsparts eins a, verflucht expressiv. Eine tolle Leistung auch für die Sängerinnen und Sänger der Musikschule. "Es hat allen einen Riesenspaß gemacht, die Produktion mitzugestalten", sagte Ulrich Eick-Kerssenbrock.

(RP)
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