Die Situation in Tokio "Was der Westen verbreitet, ist Panikmache"

Tokio (RPO). Der Alltag kehrt langsam wieder in Tokio ein, doch die Stimmung ist angespannt. Es kommt zu Hamsterkäufen, am Montag soll in Teilen der Metropole der Strom abgeschaltet werden. Vor allem Ausländer verlassen die Tokio in Richtung Süden.

 Unsere Autorin Britta Krauß lebte lange in Japan. Für RP ONLINE hält sie Kontakt mit Freunden und Bekannten in Tokio.

Unsere Autorin Britta Krauß lebte lange in Japan. Für RP ONLINE hält sie Kontakt mit Freunden und Bekannten in Tokio.

Foto: Nico Hertgen

Tag drei nach dem verheerenden Erdbeben im Nordosten des Landes: Langsam scheint wieder Alltag einzukehren. Die Nachbeben kommen in längeren Abständen, die Supermärkte sind besser ausgestattet und in den Parks trifft man sich wieder, um die Kirschblüte zu bestaunen. Doch das ist nur die eine Seite.

Tokios Bevölkerung ist unentschieden: Während die Japaner Ruhe bewahren und davon ausgehen, die Regierung habe die Lage einigermaßen im Griff, gerät vor allem die ausländische Bevölkerung langsam in Panik. Die ausländischen Medien sprechen vom kommenden atomaren Super-GAU, die japanischen Medien setzen auf sachliche und beruhigende Informationen. "Ich weiß nicht mehr, welcher Seite ich glauben soll", sagt die Französin Sandra Miyanagi (30), die mit ihrer Tochter Moka (2) und ihrem japanischen Ehemann im Tokioter Bezirk Edogawa lebt. Jeden Tag hört sie von mehr Freunden aus dem Ausland, die Tokio in Richtung Süden oder Japan in Richtung Heimat verlassen. Viele wollen soweit weg wie möglich von den Unglücks-Reaktoren.

Die Anspannung bleibt, die ständige Ungewissheit

Gerade ist Sandra Miyanagis Mann aus Europa zurückgekehrt, die erste Zeit nach dem Erdbeben musste sie mit ihrer Tochter alleine in Tokio ausharren. Statt der erwarteten Leere war der Flieger in Richtung Tokio ausgebucht: "Mein Mann stand auf der Warteliste, und das Flugzeug war voll von Journalisten", sagt die Französin. Nun versucht die Familie, einen einigermaßen normalen Alltag zu organisieren. Doch die Anspannung ist da, die ständige Ungewissheit. Ständig hat sie im Internet die Nachrichtenlage im Blick, den Fernseher will sie vor ihrer Tochter nicht laufen lassen. An Schlaf ist kaum zu denken. Mittlerweile hat ihr der Stress auch auf den Magen geschlagen. Nun überlegt sie, zur Familie ihres Mannes im südlichen Kobe oder zurück nach Frankreich zu fahren. Doch ihr japanischer Ehemann glaubt, dass die Regierung alles im Griff hat. Sorgen macht er sich nicht. "Was die westlichen Medien verbreiten, hält er für Panikmache", sagt Sandra Miyanagi.

Das glaubt auch Maya Mochizuki (31), die mit ihrem Mann (37) und ihrer Tochter Noe (2) im Bezirk Minato lebt. Mittags war sie mit ihrer Tochter im Park, um wenigstens ein bisschen Normalität einkehren zu lassen. "Die Sonne hat geschienen, es war 16 Grad warm, und die Menschen haben sich die Kirschblüten angeguckt", sagt Maya Mochizuki. "Wir haben mal eine Pause von der Anspannung, dem ständigen Starren auf den Bildschirm gebraucht. Das tat gut." Von Unruhe sei im Park nichts zu spüren gewesen. "Die Leute haben gelacht über die Horrorszenarien im ausländischen Fernsehen."

Eine Flucht aus Tokio planen sie und ihre Familie nicht. Auch wenn die Berichte in den ausländischen Medien sie nicht unberührt lassen. Jetzt bereitet sie sich erst einmal auf die kommenden Stromausfälle vor. Der Versorger Tokyo Electric Power (TEPCO), der den Unglücks-Reaktor Fukushima Daiichi betreibt, hat angekündigt, wegen Versorgungsengpässen am Montag in der Metropole stundenweise den Strom abzustellen. Der japanische Industrieminister hat dazu aufgerufen, Strom zu sparen.

Viele von Maya Mochizukis ausländischen Freunden haben sich auf in Richtung Süden gemacht. Manche sind in die südliche Metropole Osaka ins Hotel, manche nach Nagoya zu Bekannten, manche nach Kobe. Einer ist schon nach Taipei ausgeflogen. Die deutsche Botschaft warnt ihre Landsleute vor unnötigen Aufenthalten in Tokio und dem Norden Japans. Vor allem die Familien der Ausländer in Japan machen nun Druck. Sie sorgen sich angesichts der angeschlagenen Atomreaktoren um die Sicherheit ihrer Angehörigen, die vor lauter "Mir geht es gut"-Mails kaum vom Computer wegkommen. Manche Ausländer haben zwar Angst, bleiben aber in Japan, weil sie ihre japanischen Freunde und Kollegen nicht im Stich lassen wollen. Diejenigen, die im Süden Schutz suchen, müssen nun teilweise auch um ihren Job fürchten, denn nicht alle können einfach ohne weiteres Urlaub nehmen. Ihre japanischen Kollegen, glauben sie, werden am Montag wohl diszipliniert zum Dienst erscheinen.

Alle wollen wieder zur Arbeit gehen

Katsuyoshi Kuriya (32), ein Übersetzer, der im traditionellen Tokioter Stadtteil Asakusa lebt, ist der selben Meinung. Er sieht keinen Grund zur Panik. "Wir wissen, dass das vielleicht die größte Katastrophe ist, die Japan je erlebt hat, aber wir bleiben trotzdem ruhig." Zusammen mit seinen Mitbewohnern sitzt er vor dem Fernseher, kocht, diskutiert. Zur Arbeit wollen sie am Montag alle gehen. "Es sei denn, die Situation eskaliert." Die allgemeine Lage in Tokio beschreibt Katsuyoshi Kuriya als normal.

Die Bahnlinien in Tokio haben ihren Betrieb wieder aufgenommen, die Supermärkte sind wieder besser ausgestattet — auch wenn viele Regale leerstehen. Es kommt zu Hamsterkäufen. Besonders gefragt: Brot, Wasser, Nudelsuppen. "Die Leute kaufen mehr, als sie eigentlich brauchen", sagt er. Zu seiner Familie auf die südliche Hauptinsel Kyushu zu fliehen, kommt für Katsuyoshi Kuriya nicht in Frage. "Ich glaube, die Behörden haben die Situation einigermaßen im Griff." Trotzdem kann er sich vorstellen, dass sie etwas verheimlichen. Wirklich entspannt ist niemand. "Aber wir Japaner tendieren dazu, auf das zu hören, was uns die Regierung sagt."

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